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Der Kanonenbahn-Radweg in Thüringen: Tour mit Tunnelblick

Im Thüringer Landkreis Eichsfeld können Radfahrer:innen die Natur entlang der ehemaligen Kanonenbahn-Strecke genießen. Ein Highlight liegt dabei im Dunkeln: die Passage durch den über 1,5 Kilometer langen Küllstedter Tunnel.

Text Andreas Leicht
Datum 13.10.2023
© Peter Hirth

Wir rollen in ein schwarzes Loch. Es ist umrahmt von einem mächtigen Mauerwerk, an dessen Seiten je ein kapitaler Turm in die Höhe ragt. Wie das Portal einer Burg, bei der sich jedoch statt eines eisernen Tores ein scheinbar endloser Schlund öffnet. Schon ein paar Meter vorher lässt der Luftzug uns spüren, wohin der Weg führt: in eine kalte Finsternis.

Acht bis zehn Grad Celsius betragen die Durchschnittstemperaturen im Küllstedter Tunnel, der auf seiner Länge von 1.530 Metern fast komplett im Dunkeln verläuft. Denn zwei kleine Kurven an seinem Anfang und seinem Ende verhindern, dass man das Licht am Ende des Tunnels sehen kann. Gut, dass die automatische Notbeleuchtung alsbald anspringt und die paar entgegenkommenden Radfahrer:innen auch ihre Lampen eingeschaltet haben. Und so treten wir getrost etwas fester in die Pedale und reizen den Antrieb unserer Elektrobikes voll aus. Allein schon deshalb, weil es sich an diesem warmen Maitag hier drinnen fast wie im Winter anfühlt.

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Highlight auf dem Kanonenbahn-Radweg: Küllstedter Tunnel

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Wo früher Kanonen und Truppen durch den Küllstedter Tunnel ratterten, verläuft heute eine abwechslungsreiche Fahrradstrecke.
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Licht am Ende des Tunnels: Der Kanonenbahn-Radweg verläuft durch fünf Unterführungen.
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Wiesen und Blumen in Hülle und Fülle: Gleich neben dem Fahrradweg beginnt die Natur.

Die Fahrt durch den Küllstedter Tunnel ist ein ungewöhnliches Erlebnis und für viele die Attraktion auf dem Kanonenbahn-Radweg im Thüringer Eichsfeld. Auch für Uwe Müller, mit dem wir auf Tour sind: „Ich mag es, diese kühle Feuchte zu fühlen und zu riechen, plötzlich vom Hellen ins Dunkle zu kommen“, sagt er. „Der Tunnel ist ja der längste Radwegetunnel in Deutschland. Er und die vier weiteren, kürzeren Tunnel verleihen der Strecke im Vergleich zu anderen Radrouten ein echtes Alleinstellungsmerkmal.“ Müller ist im Naturpark Eichsfeld-Hainich-Werratal, durch den der knapp 32 Kilometer lange Weg zu einem großen Teil führt, für Öffentlichkeitsarbeit und Tourismus zuständig und freut sich über den regen Zuspruch. „Die Route, die im Herbst 2019 offiziell eröffnet wurde, wird richtig gut angenommen.“

Woher kommt der Name Kanonenbahn-Radweg?

Geismar, Ort in Thüringen © Peter Hirth
Im Grenzort Geismar enden die Schienen der ehemaligen Eisenbahnstrecke. Der Kanonenbahn-Radweg ist hier aber noch nicht zu Ende.

Dass der Radweg so gut angenommen wird, liegt wohl auch am Namen: Kanonenbahn. Der Begriff entstand, als nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zwischen Berlin und Metz eine durchgehende Eisenbahnlinie geplant wurde. Die Strategie dahinter: Man wollte das von Frankreich abgetretene Elsass-Lothringen mit der Reichshauptstadt verbinden, um bei Bedarf binnen kurzer Zeit Truppen und Kriegsmaterial wie Kanonen und Granaten an die Grenze transportieren zu können.

Ende der 1870er Jahre begannen die Bauarbeiten der Verbindungsstrecken. 1880 wurde auch das fehlende Schienenstück im Eichsfeld fertiggestellt, an dem entlang heute die Radroute verläuft. Auf dem ehemaligen zweiten Gleis zieht sie sich parallel zur stillgelegten Bahnstrecke von der thüringischen Kleinstadt Dingelstädt bis zum Grenzort Geismar, wo die Schienen enden, und von da noch ein paar Kilometer weiter bis ins hessische Frieda. 

„Dort trifft der Kanonenbahn-Radweg auf den Werratal-Radweg“, sagt Müller. „Das ermöglicht Radfahrern auch größere Touren und Rundrouten, zumal am Startpunkt in Dingelstädt Anschluss an gleich drei weitere Radwege besteht.“

Natur pur auf dem Kanonenbahn-Radweg

Uns reichen die rund 30 Kilometer des Kanonenbahn-Radwegs völlig aus. Eine perfekte Tagestour, die entspannter kaum sein könnte. Die Strecke ist durchgehend asphaltiert, breit genug, damit man sich nicht mit dem Gegenverkehr ins Gehege kommt, und nahezu ohne Steigung. Die Höhenunterschiede in der hügeligen Gegend hat man mit dem Bau der Zuglinie damals ausgeglichen, sodass wir heute auf dem Bahndamm ganz locker dahinrollen können. Und weil weniger Muskelkraft nötig ist, bleibt mehr Muße für die herrliche Natur um uns herum.

Die damalige Reichsregierung ließ die Strecke weitab von Ballungsräumen anlegen. Vom Start weg begleitet uns eine stille Idylle. Mal fällt der Blick frei und weit ins Land, auf die sanften Höhen des Eichsfelds und in die schmalen Täler der Unstrut, der Lutter und der Frieda. Mal schließt uns dichtes Geäst ein, wachsen einem von links und rechts Büsche und Bäume wild über dem Kopf zusammen, dass man glaubt, durch einen riesigen grünen Laubengang zu fahren.

Wir radeln vorbei an gewaltigen Muschelkalkfelsen und einer Kalktuffquelle, deren Wasser ein Stück weiter einfach im Boden versickert, was man liebevoll Bachschwinde nennt. In einem Mini-Teich kann man Molche sehen, und in den Natursteinmauern, die für die Befestigung der Bahntrasse errichtet wurde, finden Waldeidechsen und Blindschleichen ihre Nahrung. 

Sehenswürdigkeit auf dem Kanonenbahn-Radweg: Lengenfelder Viadukt

Kanonenbahn, Lengenfelder Eisenbahnviadukt © Peter Hirth
Hier zu sehen: das Lengenfelder Eisenbahnviadukt, Teil des Kanonenbahn-Radwegs. Es ist mehr als 125 Jahre alt.

Das, was jetzt etwas quietschend auf uns zukommt, entstammt allerdings nicht der heimischen Fauna. Es ist eine der Fahrraddraisinen, die hier schon weitaus länger als Touren- und E-Bikes unterwegs sind und die nun mit zwei strampelnden Männern über die Schienen Richtung Küllstedter Tunnel rattert. Der Eichsfelder Kanonenbahnverein hatte 2006 mit dem Draisninenbetrieb auf der Bahnstrecke begonnen und seitdem auch den Bau des Radwegs mit vorangetrieben.

Startpunkt der Draisinen ist der alte Bahnhof in Lengenfeld unterm Stein. Kurz dahinter geht es über das beeindruckende Lengenfelder Viadukt, das sich in fast 25 Metern Höhe rund 240 Meter über die Fachwerkhäuser spannt. Uns Radler:innen bleibt dieser kleine Kick verwehrt.

Aus Sicherheitsgründen dürfen wir nicht auf die Brücke und müssen kurz vorher den Bahndamm verlassen. Einmal steil runter in den Ort und gleich wieder steil hoch – die Kaffeepause am netten kleinen Draisinenbahnhof haben wir uns damit verdient.

Ein Ort der Begegnung: Die Radwegekirche in Großtöpfer

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Heiliger Platz: kurze Pause an der Marienfigur am Historischen Anger in Lengenfeld unterm Stein.
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Anhalten und innehalten: Die Radwegekirche in Großtöpfer steht immer offen.
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Der Pfarrer der Radwegekirche in Großtöpfer: Florian Zobel.

Von Lengenfeld unterm Stein bis zum Ziel in Frieda sind es noch etwas mehr als zehn Kilometer. Die Gegend wird offener, die Augen finden Halt an dem Kirchturm, der sich aus den roten Dächern von Geismar spitzt. In der Ferne drückt sich der bis zu 569 Meter hohe Höhenzug des Gobert aus der Landschaft; links von uns sieht man schon das Kreuz auf dem Hülfensberg, das zwischen den Bäumen fast 20 Meter in den Himmel ragt. Der Ort ist die wohl älteste Wallfahrtsstätte im Eichsfeld. Auf dem 448 Meter hohen Gipfel, den man nur zu Fuß erreichen kann, stehen die im frühgotischen Stil erbaute Erlöserkirche St. Salvator, daneben die Bonifatiuskapelle und ein Kloster, in dem auch heute noch eine kleine Franziskanergemeinschaft lebt. 

Florian Zobel joggt ab und an hier hoch. „Meist schaffe ich den steilen Berg zu den Mönchen in 25 Minuten.“ Ganz im Sinne der Ökumene. Er hat vor Kurzem seine erste Stelle als Pfarrer in der evangelischen Kirche im Geismarer Ortsteil Großtöpfer angetreten und schätzt den Austausch mit seinen katholischen Kollegen. Das Gotteshaus im Paradiesweg, vor dem wir ihn zufällig treffen, ist ein besonderes, eine Radwegekirche. Zobels Vorgänger hatte sich sehr dafür eingesetzt, Radfahrer:innen wie uns einen Ort für Begegnungen zu schaffen. Einen Platz, an dem man nicht nur an-, sondern auch innehalten kann. Die Kirche ist immer offen, im Vorraum stehen Wasserflaschen parat und draußen unter dem großen Baum Holzbänke zum Ausruhen. Es gibt Veranstaltungen, Gottesdienste, am Wochenende auch mal Waffeln und Kaffee, und wer eine Toilette braucht, geht einfach durch die offene Tür im gegenüberliegenden Pfarrhaus.

Florian Zobel wird das Erbe seines Vorgängers weiterführen. Ein Radfahrer ist er noch nicht, sagt er, „aber ich gebe mir Mühe, bald einer zu sein“. Damit er nicht nur über Glauben und Gottvertrauen sprechen kann, sondern auch über die neuesten Elektrobikes und die kalte Finsternis im Küllstedter Tunnel.

Weitere Infos zum Kanonenbahn-Radweg

Radfahren auf der Kanonenbahn-Strecke

Der 2019 eröffnete Kanonenbahn-Radweg verläuft größtenteils entlang einer 150 Jahre alten, stillgelegten Bahnstrecke vom thüringischen Dingelstädt ins hessische Frieda. Die rund 32 Kilometer lange Route führt durch fünf Tunnel (zwischen 155 und 1.530 Meter lang) und über das 35 Meter hohe Unstrut-Viadukt. 

Wer in Dingelstädt am Alten Bahnhof startet, genießt ein meist leichtes Gefälle und muss nur 100 Höhenmeter Steigung bewältigen. Erst geht es etwas bergauf, danach überwiegend bergab. Die Strecke, an der viele Rastplätze liegen, ist perfekt ins Thüringer Radwegenetz eingebunden. In Dingelstädt knüpft sie an den Unstrutradweg an, der über den Unstrut-Leine- zum Leine-Heide-Radweg führt, sowie an den Unstrut-Hahle-Radweg Richtung Leinefelde-Worbis. 

In Frieda schließt der Werratal-Radweg an, der einen zum Rennsteig-Radweg bringt. Über weitere Querverbindungen lassen sich dazu größere Rundtouren fahren.

Anreise und Leihräder

Wer per Bahn nach Dingelstädt kommen will, fährt am besten ins zehn Kilometer entfernte Leinefelde. Dort kann man bei EIC-Bike gute Räder leihen: Ex-Radprofi Michael Schuchardt findet bestimmt das passende Bike für Sie. Bahnreisende, die am anderen Ende in den Radweg einsteigen wollen, buchen eine Bahnfahrt bis Eschwege, von wo aus es über den Werratal-Radweg in 20 Minuten bis nach Frieda geht. Mieträder bietet die neue Bikestation Eschwege am Bahnhof gegenüber.

Einkehren auf dem Weg 

Wer eine Stärkung braucht, kann sich vor der Einfahrt in den langen Küllstedter Tunnel in der urigen Gaststätte „Zum Lindenhof“ mit guter deutscher Küche versorgen – ob drinnen oder draußen unter Bäumen. Er liegt direkt am Radweg und ist Endpunkt der Draisinenfahrten, die im 13 Kilometer entfernten Lengenfeld unterm Stein starten. Dort, im alten Bahnhofsgebäude samt Biergarten, gibt’s einen deftigen Imbiss, Kaffee, immer was Süßes – und natürlich Fahrraddraisinen zum Mieten.

Hotels und Pensionen auf dem Kanonenbahn-Radweg

Zwei Kilometer vom Start der Radtour in Dingelstädt entfernt liegt die „Gaststätte & Pension Steinernes Haus“: Hier gibt es zehn Zimmer, außerdem deutsche Küche und einen Biergarten. 

Über allem schwebt man im nahen Leinefelde auf der Burg Scharfenstein mit gleichnamigem Boutique-Hotel, die auf einem Bergvorsprung thront. Aus den Zimmern schaut man ins Eichsfeld oder bis zum Harz. Das Restaurant „12HUNDERT9“ kombiniert kreativ regionale Produkte, die Burgrösterei bietet feinen Kaffee. Aushängeschild ist die „Whiskywelt“, wo der „Nine Springs Single Malt Whisky“ bei Tastings und Wanderungen probiert werden kann. 

Für ein Verwöhnprogramm am Ende der Tour quartiert man sich am besten im „Schloss Hotel Wolfsbrunnen“ ein, das nahe Frieda majestätisch an einem bewaldeten Hang liegt. Das Haus hält stilvolle Suiten, ein Restaurant mit schöner Terrasse und einen Wellnessbereich bereit.

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