Der Moment, wenn man eine versteckte Galerie im Schatten aufspürt, gehört mit zum Besten am Reisen. Für alle, die wegen Corona zu Hause bleiben müssen, gibt es einen Lichtblick: Auch im Internet lohnt sich eine Kunst-Tour!
Von Maja Hoock, Alain Bieber, Jasmin Grimm (Rosy DX, Studio für Digitalität)
Eine moderne Marmorskulptur von Mutter und Kind, gerahmt von exotischen Pflanzen: Per Klick kann man den Eingang der Nairobi Gallery passieren, selbst wenn man 9000 Kilometer entfernt in Berlin sitzt und wegen Corona höchstens zum Einkaufen geht. Das Museum nutzt die »Google Arts & Culture«-Plattform, um Schmuck, Bilder und Skulpturen zu zeigen – und ist damit Teil einer globalen Bewegung von digitalen Kunstorten geworden: Auf der Internetseite präsentieren 2000 Sammlungen ihre Ausstellungen. Alleine aus Deutschland findet man 77000 Exponate. Nebenbei lässt sich ein kleiner Einblick in verschiedene Lebenswelten erhaschen: Klickt man sich aus der Nairobi Gallery per »Street View« auf die Straße, findet man sich im Herzen der Metropole wieder, sieht Palmen in roter Erde und hemdsärmelige Polizisten, deren Uniform die gleiche Farbe wie der Himmel hat: »Es ist aufregend und ermutigend, dass sie uns tatsächlich aus Deutschland besuchen und etwas über unsere Kunst und das kulturelle Erbe lernen«, sagt Purity Kiura, Direktorin der Nationalmuseen Kenias, im Gespräch mit MERIAN. »In der Zeit, in der Kunsthäuser wegen Covid-19 geschlossen haben, sind wir sehr glücklich darüber!« Im Umkehrschluss bekommen die virtuellen Besucher die Freiheit, sie zu betrachten, selbst wenn sie nicht reisen können.
Viele Museen probieren ihre digitalen Möglichkeiten gerade mal mehr und mal weniger erfolgreich aus. Wer schon vergeblich auf verschmierten Touchscreens herumgedrückt hat, um Informationen zu einer Ausstellung zu bekommen, weiß, was mit »weniger erfolgreich« gemeint ist. »Viele regelmäßige Museumsbesucher und Besucherinnen hatten auch Virtual-Reality-Brillen eher im Museum als auf einer Gaming-Messe zum ersten Mal auf«, sagt Kunsthistoriker Maurice Saß vom Institut für philosophische und ästhetische Bildung an der Alanus Kunsthochschule bei Bonn. Es stelle sich ein Abnutzungseffekt ein.
Angenehm unaufdringlich haben es dagegen estnische Kunsthäuser geschafft, funktionierende (!) Screens und Apps in Ausstellungen zu integrieren, deren Sinn sich erschließt. Das liegt wohl auch daran, dass Estland das digitalste Land Europas ist: Jedes noch so kleine Museum ist computermäßig aufgerüstet. Das spiegelt das Selbstverständnis von Präsidentin Kersti Kaljulaid wider, dass digitale Bildung elementar für gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt ist und sich gut über Kunst vermitteln lässt.
Auch die Kulturstiftung des Bundes hat den Wert der künstlerischen Annäherung an Computertechnik entdeckt und gibt im »Fonds Digital« 13 Millionen Euro dafür aus. »Coding da Vinci« ist ein Teil davon: Um deutsche Museen technologisch voranzubringen, hat die Wikimedia-Stiftung, deren bekanntestes Projekt Wikipedia ist, 2014 den Kultur-Hackathon geschaffen. Dabei bekommen Programmierer kostenlos riesige Datenmengen von Museen zur Verfügung gestellt, um damit Apps, Datenbanken und Computerspiele zu entwickeln. Auch das Berliner Futurium, ein Zukunftsforschungsinstitut der deutschen Bundesregierung, bringt IT-Themen wie Datenbewegung in künstlerischen Ausstellungen nah. Einige deutsche Häuser für Medienkunst sind sogar international bekannt und schon in den 1990er Jahren zum Höhepunkt der Kunstbewegung um Nam June Paik oder Netzkunst-Mitbegründerin Olia Lialina entstanden. Prominenteste Beispiele sind der Hartware Medienkunstverein in Dortmund und das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe, das sich seit 1989 künstlerisch mit neuen Technologien auseinandersetzt und mit der »Web Residency« der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude Digital-Künstler fördert. Die Ergebnisse werden online zugänglich gemacht, etwa die diesjährige Gewinnerarbeit »From Pest to Power« von Natasha Tontey. Sie will in einer Webseite, die zwischen Wissenschaft und Fiktion angesiedelt ist, die Eigenheiten von Kakerlaken für die Menschheit nutzbar machen. Jeder könne daran auch mitwirken, sagt sie. Internet-Kunstwerke wie dieses tragen den »Open Source«-Gedanken der Webaktivisten in die Kunstwelt. Dort setzen sie dem elitären Kunstmarkt etwas allgemein Zugängliches entgegen, das geremixt wird und sich viral weiterverbreitet.
Das Internet verschiebt zudem die Grenzen zwischen Kunstschaffenden und Kunstkonsumierenden. Das wird aktuell besonders deutlich: Zu Beginn der Corona-Pandemie rief das New Yorker Getty Museum dazu auf, berühmte Kunstwerke in der Quarantäne zu Hause nachzustellen und Fotos davon zu teilen. Anfang April waren 5000 Beiträge zu sehen, darunter Caravaggios, in denen junge Männer statt Früchten Toilettenpapierrollen im Korb tragen, sowie diverse Mona Lisas und Madonnen, die in DIY-Verkleidungen aus Decken auf der Couch posieren. Es folgten weitere Kunsthäuser und Hashtags, wodurch im Frühjahr 2020 massenhaft fotografische Interpretationen berühmter Kunstwerke entstanden. Sind sie Kunst? Oder nur eine Therapie gegen die Langeweile? »So oberflächlich manche #covidclassics vielleicht anmuten; Kunstwerke nachzuahmen ist ein altbewährter Weg zu deren Verständnis«, sagt Kunsthistoriker Maurice Saß. Tatsächlich hat es wohl noch nie eine ähnlich große kollektive künstlerische Aktivität gegeben, an der sich Menschen aus den USA genauso beteiligt haben, wie aus dem Rest der Welt.
Auch die Grenze zwischen Kunst- und Technik-Welt verschwimmt. War es noch vor ein paar Jahren undenkbar, dass nerdige Videospiele und die sogenannte Hochkultur gemeinsame Sache machen, entwickeln Künstler wie David O’Reilly heute Computerspiele wie »Everything«, das in die Kunstgeschichte eingegangen ist. In der Simulation kann man sich in nahezu alles verwandeln und sich als Amöbe, Baum, Fuchs oder Stein durch die Welt bewegen. Solche immersiven Erlebnisse, bei denen man vergisst, wo man sich gerade wirklich befindet und mit der computergenerierten Umgebung verschmilzt, sind aus den Videospielen in die Kunst gewandert. Die Nutzer von Online-Galerien wie Cryptovoxels haben eine ganze Stadt in Videospielästhetik errichtet, wo digitale Kunstwerke auf der Blockchain gegen Kryptogeld gehandelt werden. Seit Jahren gibt es eine Debatte darüber, inwiefern Games wie »Witcher« oder »Red Dead Redemption 2«, in denen man teilweise über Monate epische Geschichten in Fantasiewelten durchlebt, Kunstwerke oder Kitsch sind. Für die Spiele-Studios sind ihre Werke ganz klar Kunst.
Umgekehrt trauen sich die Entwicklerstudios an Museen heran: Das Studio Ubisoft, das in Düsseldorf seinen deutschen Hauptsitz und mit »Assassin’s Creed« die berühmteste, teils in der Antike angesiedelte Spiele-Reihe herausgebracht hat, nutzte dieselbe 3-D-Technik, um mit der Bundeskunsthalle Bonn verlorene Kunstschätze digital zu rekonstruieren. Die Spiele-Entwickler haben nicht mehr zugängliche Kulturerbestätten in der arabischen Welt von Mossul bis Palmyra wiederaufleben lassen. Mit Hilfe von VR-Brillen konnte man unter anderem die antike Stadt Ninive im Irak besuchen und sich in den Ruinen umsehen – Spaziergänge in Welten, die nicht mehr real existieren, sondern nur noch im digitalen Raum.
Auch Deutschlands bekannteste Kunstausstellung, die Documenta, hat das »Zeitreise«-Potential digitaler Archive entdeckt: Mit VR-Brillen konnte man 2017 die allererste Documenta in Kassel im Jahr 1955 besuchen und virtuell durch vier Ausstellungshallen des provisorisch nach dem Krieg instand gesetzten Fridericianums spazieren. Dazu haben Programmierer und Kunsthistoriker alle damals ausgestellten Arbeiten und ihre exakten Positionen rekonstruiert. Zu sehen war unter anderem eine digitale Version der »Knienden«, eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck, die von den Nazis zu »Entarteter Kunst« degradiert und von Documenta-Gründer Arnold Bode als Herzstück der Ausstellung inszeniert wurde.
Bei all den Möglichkeiten ist es kaum verwunderlich, dass auch Unternehmen ein Stück vom sexy Kunst-Kuchen abhaben wollen. Das Modehaus Prada zeigt seit Jahren virtuelle Kunstwerke, die man mit VR-Brillen betreten und mitgestalten kann. »Tilt Brush«-Kunst, bei der man mit einem virtuellen Pinsel vor sich in der Luft malt, erzielt auf YouTube millionenfache Aufrufe. In Hamburg entsteht gerade ein digitales Mega-Museum, das mit visuellen Effekten wohl schon bald hohe Besucherzahlen generieren dürfte: Der erste europäische Ableger des »Team Lab Borderless« soll in der Hafencity Selfiefreundliche Lichtinstallationen und Digitalkunstwerke präsentieren. Die Grenze zum Entertainment ist manchmal verdammt schmal. Für Kunsthistoriker Saß stehen Unterhaltung und Kunst aber nicht unbedingt konträr zueinander: »Kunst in den Wunderkammern der frühen Neuzeit hatte allemal auch einen hohen Funfactor.« Auf der anderen Seite bestünde die Gefahr, dem Kitsch zu verfallen: »Historische Kunstwerke in einer Augmented Reality zu animieren und Porträts zum Augenzwinkern zu bringen, finde ich schon ein bisschen goofy – und vielleicht auch ein bisschen fies den alten Meistern gegenüber«, sagt Saß.
Was bleibt bei einem Spaziergang durch die digitale Kunstwelt? Zunächst das beruhigende Gefühl, dass die Menschen sich in der Krise über das Internet zusammengetan haben, um mit nachgestellten Meisterwerken der globalen Corona-Depression etwas Lustiges entgegenzusetzen. Das Wissen, dass in Nairobi eine Galerie im Schatten hoher Palmen schlummert, die wir ohne Computer nie entdeckt hätten. Aber auch die Sehnsucht danach, endlich wieder gemeinsam mit anderen im Museum einsam zu sein. Das findet auch die Direktorin der Nationalmuseen Kenias Purity Kiura: »Wenn die Menschen wieder reisen dürfen, wünschen sie sich doch, dass sie, wenn sie vorbeikommen, den Stein der weißen Skulptur am Eingang mit eigenen Händen anfassen und fühlen können.«
Kunst im Internet
Rosy DX, Studio für Digitalität
Um Künstlern in Not während der Corona-Krise zu helfen, hat das Studio für Digitalität, deren Protagonisten in Berlin und Düsseldorf leben und die bei dieser Ausgabe mitgewirkt haben, die Online-Plattform »Art Will Save Us« ins Leben gerufen. Dort werden Live-Performances gezeigt, darüber hinaus werden Spenden gesammelt. Zuschauer können sich über die Website informieren, wann und über welches Video-Tool die nächste Show stattfinden wird. www.artwillsaveus.club
Krypto-Galerien
Eine Computer-Stadt, die nur auf der Blockchain existiert und auf der alle Kunstwerke von den Nutzern selbst generiert und in eigenen Ausstellungsräumen gezeigt werden: Es ist nicht alles gut, aber der radikale Open-Source-Ansatz und die Kunstfreiheit machen die Krypto-Galerien trotzdem interessant. www.cryptovoxels.com
Hartware Medienkunstverein, Dortmund
Schon in der ersten Hochphase der Medienkunst in den 1990er Jahren wurde der Hartware Medienkunstverein in Dortmund gegründet. Gezeigt werden Video- und Computerarbeiten, die sich oft mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen. www.hmkv.de
Team Lab, Hamburg
Das internationale Künstlerkollektiv Team Lab schafft digitale Kunstwerke und immersive Lichtinstallationen, die in Ausstellungshäusern auf der ganzen Welt gezeigt werden. Noch Zukunftsmusik, aber: Bald soll in der Hamburger Hafencity eine große Schau eröffnet werden. www.teamlab.art
Digitale Kunsthalle
Das ZDF präsentiert in seiner Digitalen Kunsthalle kostenfreie Ausstellungen in Zusammenarbeit mit Museen wie dem Museumsquartier Osnabrück (Ausstellung Felix Nussbaum. Leben und Werk). https://digitalekunsthalle.zdf.de
Futurium, Berlin
Das Futurium ist als »Haus der Zukünfte« eine wichtige Schnittstelle zwischen Technologie, Gesellschaft und Kunst in Berlin. www.futurium.de
Bundeskunsthalle, Bonn
Die Bundeskunsthalle in Bonn hat mit dem Spielehersteller Ubisoft eine virtuelle Zeitreise zu Kunstschätzen von Mossul bis Palmyra geschaffen. www.bundeskunsthalle.de
Museum Barberini, Potsdam
Das im Januar 2017 eröffnete Museum im aufwendig rekonstruierten Palais Barberini, das ursprünglich 1772 errichtet wurde, zeigt in seiner App nicht nur Ausstellungsansichten von »Monet. Orte«, sondern auch Zusatzinformationen und Bilddetails.
Documenta, Kassel
Die Documenta in Kassel ist die bekannteste Kunstschau Deutschlands – ihre digitalisierten Archive können online besucht werden. www.documenta-archiv.de
Rijksmuseum, Amsterdam
Das Rijksmuseum in Amsterdam hat seine Dauerausstellung sehr hochwertig und mit allen Audioguide-Texten für den Computer aufbereitet. www.rijksmuseum.nl/en/from-home
Museum of Digital Art, Zürich
Das Züricher Museum of Digital Art gibt es seit 2016. Es zeigt nicht nur Computerkunst, sondern lässt zum Teil auch Ausstellungen von einer Künstlichen Intelligenz kuratieren. www.muda.co
New Museum, New York
Das New Museum in New York hat eine 43-jährige Geschichte, die man in seinem Online-Archiv ausführlich kennenlernen kann: durch Videos, Tonaufnahmen und Bilder von Künstlern wie Carmen Agote oder Dennis Adams klicken. https://archive.newmuseum.org
Kunstmuseum Kumu, Tallinn
Zum Estnischen Kunstmuseum zählen fünf Häuser, die nicht nur jeweils ihre Sammlungen digital archiviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern auch anlässlich der Corona-Krise innerhalb nur weniger Tage ein gemeinsames Online-Museum auf die Beine gestellt haben. https://ekm.ee/virtuaalmuuseum