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Erleben

Nova Scotia: Kanadas aufregende Atlantikküste

Nur sieben Flugstunden von Frankfurt entfernt, am östlichsten Punkt des Landes, liegt eine riesige Halbinsel mit eigener Kultur und Kulinarik, erstaunlicher Natur und dem höchsten Tidenhub der Welt: Nova Scotia.

Text Nadja Bossmann
Datum 22.02.2025

Bootsführer Lucas gibt letzte Anweisungen: „Handschuhe anziehen, Rettungswesten enger schnallen und keine Panik, wenn jemand über Bord geht.“ Lucas wirft den Motor an. Das Schlauchboot hebt die Nase aus dem Shubenacadie River, zieht vorbei an Fichtenwäldern, in deren Baumspitzen Weißkopfseeadler nisten. Schwarzbären leben hier und Kojoten. Aber die lassen sich nicht blicken. Noch ist alles ruhig, während das Boot mit seiner sechsköpfigen Besatzung in Richtung Flussmündung unterwegs ist. Noch ist die Flut nicht eingetroffen.

An einer Sandbank wartet das Boot auf das Wasser, auf das leise Gluckern, das es ankündigt. Gestern hat Lucas hier einen gestrandeten Minkwal entdeckt. Die Flut hat ihm wieder in den Ozean geholfen. Die Flut, die in wenigen Minuten mit aller Macht den Fluss hinaufdrängen wird. Genau für diesen Moment ist das kleine Schlauchboot hier.

Tidal Bore Rafting in der Bay of Fundy – wer in Nova Scotia unterwegs ist und fit genug, um in ein Zodiac zu klettern, lässt sich dieses Erlebnis nicht entgehen. Denn nirgendwo auf der Welt ist der Unterschied zwischen den Gezeiten größer als in der Bay of Fundy. Der Tidenhub liegt gewöhnlich bei 16 Metern. Es wurden schon 21 Meter gemessen, während sich hier zweimal am Tag 160 Milliarden Tonnen Wasser hin- und herbewegen. Für den Shubenacadie bedeutet dies an seiner Mündung Wellen mit bis zu fünf Meter Höhe, wenn Fluss und Flut aufeinandertreffen. 

Willkommen in Nova Scotia

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Highlight in Nova Scotia: Rafting Touren in der Bay of Fundy

Ein Stück weiter flussaufwärts, wo das Boot wartet, entstehen immer noch Stromschnellen mit beachtlichem Adrenalinfaktor. Kaum fünf Minuten später schwappen die ersten schokoladenbraunen Wellen über den Bootsrand, dann über Kapuzenköpfe hinweg. Eisenhaltiger Bodensatz ist der Grund für diese Farbe, Meersalz verursacht das Brennen in den Augen. Pausenlos schlagen jetzt die Wellen über das Boot.

Lucas zieht rasante Kreise über die Nahtstelle zwischen Fluss und Flut hinweg, eine Stunde lang, bis das Meerwasser schließlich die Oberhand gewinnt, den Fluss zurückdrängt und die Wellen kleiner werden. Triefend kehrt die Besatzung des Zodiacs zurück zum Shubenacadie Tidal Bore Rafting Resort beim kleinen Ort Urbania, wo es Duschen und Sofas gibt – und heißen Kakao am Kaminfeuer. „Welcome to Nova Scotia“, sagt Lucas, während er große Henkeltassen in kalte Hände reicht.

Starke Gezeiten am Ocean Playground

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Der Tidenhub in der Bay of Fundy ist so stark, dass der Meersboden bei Ebbe einer Wüste gleicht.

Nova Scotia nennt sich auch „Canada’s Ocean Playground“. Kein Ort der Halbinsel im Südosten Kanadas ist weiter als 56 Kilometer von der Küste entfernt. Die Provinz ist so groß wie Schottland, nach dem sie von den ersten Siedlern benannt wurde, hat aber nur knapp eine Million Einwohner. Weitere zwei Millionen Menschen kommen jedes Jahr zu Besuch, vor allem für das Spektakel der Gezeiten, das auch bei Ebbe höchst eindrucksvoll ist.

Nicht weit vom Shubenacadie River entfernt liegt Burntcoat Head Park. Dort ist es während des Niedrigwassers möglich, den Meeresboden der Bay of Fundy zu erkunden. Ein sanft abfallender Pfad führt hinunter in die Bucht und gibt den Blick frei auf Flowerpot Island, eine Insel, die erst 1913 entstand, als die mächtige Flut sie endgültig vom Festland freibrach. Über Sandsteinstufen geht es auf den Meeresboden, wo sich zwischen Sand und Felsplatten die Unterseewelt in Gezeitentümpeln sammelt. Die Altlantische Schlickbohr-Muschel und die Mondschnecke leben hier, und drei essbare Algenformen gibt es. 

Dinner auf dem Meeresgrund

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Das geht nur hier: Menschen treffen sich zum „Dinner at the Oceanground“ in der Bay of Fundy.

Davon ließ sich der Frankfurter Chris Velden inspirieren, der seit zwölf Jahren das Restaurant The Flying Apron Inn im nahe gelegenen Summerville führt. Lange hat er in Sternerestaurants gekocht. Sein eigenes Konzept besteht heute vor allem aus nachhaltigen Meeresfrüchten, die seine Gäste auch gern selbst mit ihm in der Restaurantküche zubereiten dürfen.

Während Ravioli-Teig geknetet und lokaler Cider verkostet wird, erzählt Chris von einer genialen Idee, die ihn weit über Kanada hinaus berühmt gemacht hat: Sechsmal im Jahr hat er seinen Restaurantbetrieb auf den Meeresboden verlegt und bei Ebbe zum „Dining on the Ocean Floor“ eingeladen. Fine Dining mit Gaskocher und Blick auf den Wasserstand. Seine Gäste machten es sich auf Strohballen bequem oder gingen auf Erkundungstour. „Einmal ist uns bei starkem Wind das Essen vom Teller geflogen“, erzählt Chris. „Die Leute fanden’s herrlich.“ „Dining on the Ocean Floor“ habe er mittlerweile weitergereicht, er konzentriere sich jetzt wieder ganz auf den Küchenbetrieb im Restaurant. Inzwischen sind die mit Hummerschwänzen, Ricotta und Parmesan gefüllten Ravioli gar und so köstlich wie erwartet. 

Besuch in Halifax

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Ausfahrten mit den Fähren von Halifax sind am Abend besonders stimmungsvoll.

Stippvisite in Nova Scotias Hauptstadt Halifax, einem übersichtlichen Hafenstädtchen direkt am Atlantik. Die gemütliche Argyle Street gilt mit ihren Bars, Restaurants und Cafés als Ausgehmeile. Im Five Fishermen gibt es das beste Seafood der Stadt: Hummer, Krebse und Garnelen, alle quasi vor der Tür gefischt. Dieses Kulinarik-Thema ist in Nova Scotia allgegenwärtig. Die bunte Glasmalerei an einer Wand des Five Fishermen zeugt davon, dass dies früher ein Bestattungsinstitut war. Wo heute Krustentiere serviert werden, waren 1912 viele der 209 Opfer der Titanic aufgebahrt, die Bergungsschiffe nach Halifax brachten.

Abendspaziergang über den vier Kilometer langen Harbour Boardwalk entlang der Hafenkante. Eine Tour mit dem Harbour Hopper liefert Hintergrundgeschichten. Der Unimog war einst in Vietnam unterwegs, ausgestattet mit zwei Maschinengewehren. Heute fährt er Besucher durch die engen Gassen der Stadt, während Reiseführerin Cathrine Anekdoten erzählt und Tipps gibt. 

Es geht vorbei an St. Paul’s Anglican Church, der ältesten Kirche Kanadas, erbaut 1750, vorbei an Prachtbauten und einer Bank, allesamt von Piraten errichtet, die unter dem Schutz der englischen Königin standen. Mit lautem Platschen gleitet der Unimog ins Hafenbecken. Genau hier kollidierten 1917 zwei Kriegsschiffe, von denen das eine mit über 2.500 Tonnen Sprengstoff beladen war. Die Halifax-Explosion zerstörte die gesamte Altstadt und tötete rund 2.000 Menschen, sie gilt als größte menschengemachte Explosion vor dem Atomzeitalter. Catherine beendet die Hafentour mit einer leichteren Note: Das Übersetzen mit der Fähre bei Sonnenuntergang sei sehr romantisch und koste nur 2,79 kanadische Dollar.

Grand Pré: Weinanbau in Nova Scotia

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Mit den Franzosen kam auch der Wein an Kanadas Atlantikküste.

Unterwegs auf dem Highway 1 auf dem Weg nach Grand Pré, in die drittgrößte Weinregion Kanadas. Tatsächlich produzieren zwölf Weingüter im Annapolis Valley den einzigen Appellation-Wein Nordamerikas mit Namen „Tidal Bay“. Grand Pré, zu Deutsch „große Wiese“, ist nicht nur der Name dieser Gegend mit ihren sanften Hügeln und bonbonfarbenen Holzhäusern, vor denen Rhododendren und Lupinen blühen.

Grand Pré heißt auch das älteste Weingut an der Atlantikküste Kanadas, das heute einer Schweizer Winzerfamilie gehört. Ihr historisches Wohnhaus von 1828 ist mittlerweile ein kleines Hotel. Alte Holzdielen, stilvolle Möbelstücke aus verschiedenen Epochen, Leseecken, eigene Weinvorräte: Die sechs Zimmer sind so gemütlich, dass die Gäste gerne eine Weile bleiben. 

Das ergibt auch doppelt Sinn bei diesem Umland: Durch die Weinberge führen versteckte Radwege ins nahe gelegene Wolfville, ein Städtchen mit viktorianischem Charme, Opernhaus und eigener Universität. Seit 2012 gehört die Region zum UNESCO-Welterbe. Das unauffällige Monument dazu steht zwischen Weinbergen mit Blick auf eine jahrhundertealte Deichlandschaft. Und um genau die geht es. 

Als sich 1680 Südfranzosen im damals kanadischen Territorium Acadie niederließen, verwandelten sie mithilfe der Deichbaukünste ihrer Heimat Marschland in Ackerland. Sie freundeten sich mit den hier lebenden Mi’kmaq- Stämmen an, mit denen sie Wissen und Waren tauschten. 

Das friedliche Zusammenleben endete 1755, als 12.000 Akadier von britischen Truppen deportiert und durch amerikanische Siedler ersetzt wurden, die mit den Mi’kmaqs weit weniger respektvoll umgingen. Doch die Akadier haben Spuren hinterlassen: Ihre Deiche halten noch immer der gewaltigen Flut stand. Und viele der Trauben, die heute in den Weinbergen von Grand Pré wachsen, kamen vor fast 400 Jahren mit ihnen aus Frankreich, am bekanntesten: L’Acadie.

Mit Kulturguides durch den Kejimkujik National Park

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Unzählige Flussarme durchziehen den Kejimkujik National Park.

Das Volk der Mi’kmaq ist auf der Halbinsel immer noch zu Hause und ihre Kultur sichtbarer denn je. Im Besucherzentrum des Kejimkujik National Parks erklären Lisa und Jonathan, wie ihre Vorfahren Kanus aus Birke, Tanne, Esche und Zeder gebaut und mit Asche, Bärenfett und Harz abgedichtet haben. Eine Technik, die immer noch höchst effektiv ist. 

Lisa und Jonathan sind Kulturguides des Parks, der gleichzeitig ein historisches Denkmal für Kanadas First Nations ist. Lisa erzählt, dass vor allem Mi’kmaq selbst in den Park kommen, um ihre Stammestraditionen besser kennenzulernen, die von weißen Siedlern und Regierungen über Jahrhunderte unterdrückt wurden. Der Park besteht seit 1968. Die Sprache der Mi’kmaq ist seit zwei Jahren im Rahmen einer Versöhnungsgeste als erste Sprache Nova Scotias anerkannt. Lisa und Jonathan führen durch dichten Wald zum Mersey River.

Nur barfuß dürfen die flachen Uferfelsen betreten werden, auf denen Mi’kmaq vor über 4.000 Jahren Petroglyphen hinterlassen haben. In Stein gekratzte Bilder. Jonathan geht auf die Knie und gießt Flusswasser über die Felsen, um ihre Zeichnungen hervortreten zu lassen. Ein Kompass, ein Karibu, eine Frau mit Kopfschmuck und der siebenzackige Stern der Mi’kmaq erscheinen. Ein achter Zacken wurde als Willkommensgeste für den britischen König hinzugefügt. „Er sollte bedeuten: Wir teilen gern mit euch, was wir haben“, erklärt Jonathan. 

Zurück auf das Wasser. Die nomadischen Mi’kmaq benutzten den Mersey River, um im Frühjahr von den Wäldern an die Küste zu ziehen. Heute führen Kajaktouren durch seine stillen Seitenarme. Libellen steigen aus dem Ufergras auf, Schildkröten lassen sich von Baumstämmen ins Wasser plumpsen. Biberdämme versperren ab und zu den Wasserweg. Die Kajaks suchen sich eigene Routen durch das grüne Dickicht. So entstehen beinahe andächtige Momente in dieser ursprünglichen Wildnis. 

Besuch der Bluenose in Lunenburg

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Blick auf Lunenburg und die Bluenose II in Nova Scotia

An der Südküste von Nova Scotia liegt Lunenburg, UNESCO-Welterbe und Heimathafen der Bluenose II. Bluenose, Blaunase, ist eigentlich der Spitzname der Neuschotten – aber eben auch der Name des stolzen Segelschiffs, das ab den 1920er Jahren zahlreiche große Schoner-Rennen gewann und auf Münzen und Nummernschildern allgegenwärtig ist. Die Bluenose II steht ihrer mittlerweile ausgemusterten Vorgängerin in Eleganz und Mythos in nichts nach.

Die ersten Siedler von Lunenburg aus Deutschland und der Schweiz waren eigentlich Bauern, fanden aber keinen guten Boden vor. Also wurden sie kurzerhand Fischer, und Lunenburgs 200 Schoner waren schon bald die größte Flotte des kanadischen Fischereiwesens. Heute ist die Hafenstadt vor allem für ihre Architektur und die robusten Holzhäuser bekannt.

Im Whiskyladen Tin Roof können Besucher den Lunenburg-Test machen: Wer Sauerkraut, Lunenburg-Leberwurst, Rumkuchen und eingelegten Hering hintereinander runterbekommt, wird Ehrenbürger. Es folgt Hodge Podge, ein Gemüse-Klassiker der ersten Siedler. Als Beilage gibt es die Info, dass die rostroten Häuser von Nova Scotia ihre Farbe schlecht gewordenem Lebertran verrührt mit ockerfarbenem Boden verdanken.

Früh am nächsten Morgen wartet die Bluenose II schon im Hafen. Ihre 20-köpfige Crew besteht aus Jugendlichen, die ihren Dienst vom ersten April bis Mitte Oktober auf dem 60 Jahre alten Segler versehen. First Mate Erin lässt den Anker lichten, während dunkle Wolken aufziehen und ein paar Robben beim Auslaufen zusehen. Mit gehissten Segeln lässt das Boot den Leuchtturm rasch hinter sich. Anne Bailly, Operational Manager der Bluenose, lächelt aus ihrer Regenjacke in den beginnenden Wolkenbruch. Ihre Urahnin Jane Bailly war das erste Siedlerbaby, das 1753 in Lunenburg zur Welt kam, erzählt sie. Damals war Lunenburg noch Wildnis. Ein bisschen Wasser könne ihre Nachfahrin heute nicht schrecken.

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