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Kultur

Wo Kunst und Design zuhause sind: Valencia

2022 war Valencia die Welthauptstadt des Designs. Und das aus gutem Grund: Etliche künstlerische Ideen und Produkte wurden von Künstler:innen der spanischen Stadt in Europa und die ganze Welt getragen. Wir geben einen Überblick über ausgewählte Schätze und zeigen, wieso Valencia den Titel verdient hat.

Text Inka Schmeling
Datum 30.12.2022

Die drittgrößte Stadt Spaniens ist besonders für die Ciudad de las Artes y de las Ciencias berühmt, ein futuristisches und architektonisches Konglomerat aus Gebäuden. Doch auch in zahlreichen weiteren Quartieren und Boutiquen der Stadt wird deutlich, wieso Valencia 2022 Welthauptstadt des Designs war: Kunst und Kultur verbinden sich in der Metropole auf einzigartige Weise mit exzentrischer, aber auch schlichter Architektur, mit außergewöhnlichen Accessoires und historischer Inspiration. MERIAN hat verschiedene Künstler:innen getroffen und gibt einen Einblick in das pulsierende Kunst- und Designgeschäft Valencias.

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Welthauptstadt des Designs 2022

Wie viel Bauchgefühl in jedem guten Design steckt, riecht man gleich beim Betreten von Valencias größtem Kreativraum „CuldeSac“. „Wir essen hier jeden Tag alle zusammen“, erklärt Sophie von Schönburg, Partnerin bei CuldeSac. Ein Duft von geschmortem Gemüse und Mittelmeerkräutern erfüllt an diesem frühen Nachmittag das Büroloft. „Was passiert, wenn wir alle an einem Tisch sitzen und uns austauschen“, so von Schönburg, „diese geballte, vibrierende Kreativität, das ist so typisch für die spanische Lebensart und das Fundament unseres Designs.“

Und dieses Design hat es weit gebracht: Der faltbare Fahrradhelm „Closca“ ist heute im Museum of Modern Art in New York oder im Design Museum in London zu kaufen, auch ihre Version der traditionellen spanischen Wasserflaschen ist zum Design-Star avanciert. Die Möbel wie der Kinderhochstuhl „Micuna“ oder der ausziehbare Tisch „Transalpina“ stehen in Wohnzimmern auf der ganzen Welt. Ladengeschäfte in Rom, Moskau, Madrid und natürlich Valencia hat CuldeSac eingerichtet und Events für große internationale Marken konzipiert. Was sich die rund 60 Möbel- und Grafikdesigner:innen, Inneneinrichter:innen, Architekt:innen und Eventmanager:innen in diesem Loft beim Mittagessen und an ihren Schreibtischen ausdenken, bringt valencianisches Bauchgefühl auf alle Kontinente.

Valencia: Ein reiches Designerbe

Für Xavi Calvo aber ist der Erfolg von „CuldeSac“ nur der Anfang. Ein vielversprechender Auftakt für ein Jahr, auf das er schon lange mit vollem Einsatz hingearbeitet hat: 2022 war Valencia die Welthauptstadt des Designs. Im Herbst 2019 hat die World Design Organization (WDO), die diesen Titel alle zwei Jahre vergibt, ihre Entscheidung bekannt gegeben; noch während der Videokonferenz mit der WDO bedankte sich Valencias Bürgermeister Joan Ribó bei Xavi Calvo. Calvo ist der Mann, der diese Bewerbung überhaupt erst losgetreten hat. Der erst die Lokalpolitiker:innen und dann die WDO-Jury von valencianischem Design begeisterte und der genau das 2022 auch bei allen Besucher:innen der Stadt erreichen wollte. „Die Welt von unserem Design zu begeistern, das ist nicht schwer“, winkt Xavi Calvo, selbst Industrie- und Grafikdesigner, ab. „Ich brauchte die Jury bloß durch unsere Stadt zu führen, um zu zeigen, was für ein reiches Designerbe wir haben“. Schwerer sei es gewesen, die Valencianer:innen selbst für ihr Design zu begeistern, erzählt Calvo. „Wir entwickeln hier erst langsam und dank dieser Auszeichnung ein Selbstbewusstsein für unser Design.“

Das beobachtet auch Christophe Penasse, gebürtiger Belgier, der gemeinsam mit seiner kolumbianischen Lebensgefährtin Ana Hernández das Design-Label „Masquespacio“ betreibt. „Die Valencianer lieben ihre Stadt innig und machen sie gleichzeitig viel kleiner als sie ist. Immer heißt es: ‚Madrid und Barcelona sind viel wichtiger, wir sind ja nur die drittgrößte Stadt Spaniens – und eigentlich eh bloß Bauern'.“ Penasse und Hernández zogen um die Jahrtausendwende nach Valencia. Sie schloss hier mit Bestnoten ihr Designstudium ab, er ergatterte nach einigen Monaten Spanischunterricht einen Posten in einem internationalen Konzern. Dann kam die Wirtschaftskrise. Er verlor seinen Job, sie fand erst gar keinen. „Wir hatten keine andere Wahl, als uns selbstständig zu machen“, erzählt Ana Hernández; 2020 feiern sie das zehnjährige Bestehen von Masquespacio. Sie wollen umziehen, in größere Räume, sechs Angestellte hat ihre Firma. Auf Ibiza haben sie eine Bar gestaltet, in Oslo eine kleine Ökowein-Brasserie und in Bonn einen Imbiss für Mittelmeer-Food – Projekte auf der ganzen Welt nach ihren Entwürfen und seinen Businessplänen.

Nur Valencia blieb lange verhalten, ihre eigene Stadt, in der Masquespacio schon rund 20 Boutiquen, Restaurants, sogar ein Hostel und eine Sprachschule eingerichtet hat. „Hier musste man sich“, so Penasse, „erst an Anas Design gewöhnen.“ Farbenfroh und verspielt ist das, es legt viel Wert auf Formen und Vielfalt. Penasse sagt: „Das ursprüngliche Design von Valencia ist ruhiger und traditioneller. Es ist ein Industriedesign, hier wurden über Jahrhunderte vor allem Möbel oder Leuchten gefertigt, dazu Porzellan und Plakate für den Verkauf von Orangen.“

Eine Ausnahme gibt es, jedes Jahr im März, und das sind die Fallas von Valencia. Alles andere als ruhig und rational geht es zu, wenn haushohe Pappmaché-Puppen auf zig Plätzen der Stadt aufgebaut und schließlich am Josefsabend, dem 19. März, in Flammen gesetzt werden. Musik und Tänze begleiten das Fest, jede Menge Böller und Feuerwerksraketen, ganz besonders aber: eine schier unbändige Kreativität. Monatelang arbeiten die Falleros an ihren Werken, neben den traditionellen, recht karnevalesken Figuren gibt es zunehmend auch avantgardistischere Exemplare. Damit die versierten Handwerker auch in der übrigen Zeit des Jahres Arbeit haben, lagert „CuldeSac“ als größtes Designbüro der Stadt dann oft Projekte an sie aus. „Wir finden selten so gute Handwerker, die sich mit so vielen verschiedenen Materialien auskennen wie die Falleros“, sagt Kreativchefin Lucía del Portillo. „Die Fallas sind Valencias größtes Volksfest und gleichzeitig jedes Jahr aufs Neue eine Quelle der Inspiration.“

Auch die Leuchtenfirma LZF Lamps hat sich vom Handwerk der Fallas inspirieren lassen. Ein Kunst-Happening Anfang der 1990er Jahre war die Geburtsstunde des Unternehmens. Mariví Calvo und Sandro Tothill, sie Malerin, er Musiker, luden Künstler:innen zu einer Party ein, drückten ihnen ein Stück Holzfurnier und eine Lampe in die Hand und sagten: Denkt euch etwas aus. „Es wurde ein sehr lustiger Abend mit vielen interessanten Entwürfen“, erinnern sich die Firmengründer. Bis aus den Ideen hochwertige Leuchten entstanden, die technischen und ästhetischen Ansprüchen genügen, bis LZF Lamps an den Start ging, war es dann ein längerer Weg.

Inspiriert von den Fallas

Heute haben Calvo und Tothill jede Menge Erfahrung im Designen von Leuchten und vor allem im Umgang mit Holzfurnier. An der Pendelleuchte „Koi“ kann man das sehr gut sehen, der leuchtende Karpfen aus feingliedrigen Holzelementen misst über drei Meter. Für den Fischkörper legte Mariví Calvo die Holzlamellen wie Schuppen übereinander, ein Verfahren, das einst für hinterleuchtete Wände genutzt wurde. Halt finden die Lamellen auf einer voluminösen Holzkonstruktion, eine Bauart, die sich auch die Falleros in Valencia für ihre Figuren zunutze machen.

Gefertigt wird vor den Toren der Stadt, Handwerker wählen die Furniere nach Transparenz und Maserung aus, schneiden, bemalen und biegen sie in Form. Für ihre Kollektionen arbeitet LZF Lamps inzwischen mit Designer:innen und Künstler:innen weltweit zusammen. So entstehen immer neue überraschende skulpturale Formen, für die der Werkstoff Holz mit Glas, Leder und Metall kombiniert wird. Bei der Leuchte „Dune“, einem Entwurf des Madrider Studios Mayice, umhüllt ein mundgeblasenes Borosilikatglas eine Röhre aus Furnier mit dimmbarer Lichtquelle. Das Glas besteht aus zwei symmetrischen Enden und einer unregelmäßigen, zwiebelförmigen Mitte, die Lichtreflexe entstehen lässt.

„Mit der Wahl zur Designhauptstadt wird Valencia in der Welt bekannter, aber die Türen öffnen sich auch nach innen“, meint Mariví Calvo. Valencias Kunsthandwerker:innen, Keramiker:innen, Schreiner:innen und Schneider:innen hätten nicht immer die verdiente Wertschätzung bekommen. Der Titel könnte helfen, das zu ändern. „Es geht nicht darum, immer mehr Objekte auf den Markt zu bringen, wir sollten wertvolle und wunderschöne Dinge entwerfen.“

„Annandaniel“: Fotos als Gemälde

Es sind genau diese Rückkopplungen zwischen der Stadt und ihren Kreativen, auf denen Anna Devís und Daniel Rueda ihr Geschäft aufgebaut haben: Als Duo „Annandaniel“ nehmen sie die jahrhundertealten Fassaden des Altstadtviertels El Carmen, die gediegenen Gründerzeithäuser von Russafa, die bunt gefliesten Fischerbuden von El Cabanyal oder die futuristische Ciudad de las Artes y las Ciencias von Stararchitekt Santiago Calatrava als Leinwand – und inszenieren sie zu Fotos, die eher Gemälde sind. „Als Erstes machen wir eine Skizze von dem Gebäude und dem, was wir daraus machen wollen“, erklärt Anna Devís ihre Arbeit. „Dann suchen wir, oft tagelang, alle Requisiten zusammen oder stellen sie selbst her. Wir arbeiten nur mit echten Fassaden und Materialien, nichts wird am Computer bearbeitet.“ „Unsere Bilder“, fährt Daniel Rueda fort, „werfen ein Schlaglicht darauf, wie interessant Architektur ist. Wir müssen ihr nur mehr Aufmerksamkeit schenken.“

Beide haben ursprünglich in Valencia Architektur studiert, sich an der Universitat Politècnica kennen- und lieben gelernt. Dass sie nun in einem Grenzbereich von Architektur, Fotokunst und Design arbeiten, entspricht nicht nur ihren Vorlieben, sondern auch dieser Stadt, die mit ihrem „reichen Erbe“ an Architektur und Design, an Farben und Formen zu einem ganz eigenen Melting Pot für Architekt:innen, Designer:innen, Künstler:innen aus aller Welt geworden ist.

Ebenso wie am Mittagstisch von „CuldeSac“ wird das in einem neuen Master-Studiengang sogar forciert: Bei „March: Master in Architecture, Design and Innovation“ arbeitet die Universität der Stadt eng zusammen mit dem Architekturbüro „Fran Silvestre“, die Studierenden – etwa drei Viertel kommen aus dem Ausland – werden sowohl von Architekt:innen wie Designer:innen unterrichtet. Und das inmitten von Skulpturen, die der valencianische Bildhauer Andreu Alfaro (1929-2012) einst hier auf diesem Gelände, dem Espai Alfaro am Stadtrand, geschaffen hat.

Design in Valencia: Die Vielfalt der Stile

„An solche Orte haben wir die Jury auch geführt, eben nicht nur zu den historischen Sehenswürdigkeiten“, sagt Xavi Calvo in seinem Büro an der Marina, in Sichtweite eines weiteren Vorzeigebaus, dem Veles e Vents von David Chipperfield. „An Orte, wo sich Valencia neu erfunden hat. Wo wir gezeigt haben, dass wir unser historisches Erbe schätzen und gleichzeitig kreativ damit umgehen.“ Dazu gehören auch Valencias Kunstzentren, das Bombas Gens in einer alten Pumpenfabrik aus den 1930ern und das Centre del Carme in einem Kloster. Oder der Mercat de Colom: In der schönen Modernisme-Markthalle sind Cafés und Imbisse untergebracht, lokale Künstler haben hier ihre Stände.

Valencia hat eine pragmatische, zupackende Art, sein Erbe umzugestalten, das hat die Stadt etwa mit ihrem Fluss Turia gezeigt: Nachdem sein Hochwasser 1957 großen Schaden anrichtete, leitete man ihn um – und verwandelte sein Bett nach und nach in einen Park, der sich an der Altstadt vorbei gen Mittelmeer schlängelt. „Gut“, beschwichtigt Calvo in valencianischer Tiefstapelei, „die Jurymitglieder hatten bestimmt auch nicht so viele Erwartungen an unsere kleine Stadt. Aber als sie dann einmal hier waren“ und jetzt kann er seinen Stolz nicht mehr im Zaum halten, „da waren sie begeistert von Valencia. Von all diesen Kontrasten, dieser Vielfalt an Stilen nebeneinander. Und von dieser ungeheuren Kreativität.“

Tipp: Rundgang durch die Welthauptstadt des Designs

Die „Guiding Architects“, ein Architektenteam aus Deutschland und der Schweiz, bietet fachkundige und deutschsprachige Führungen zu Valencias spannendsten Häusern