In Kunst- und Wunderkammern versuchten Herrscher und Forscher, die Vielfalt der Welt zu begreifen und zu vereinen. So entstanden Räume voll mit Bizarrem und Kunstfertigem – universelle Vorgänger der heutigen Museen, in denen sie aufgingen.
TextJonas Morgenthaler
Datum 07.11.2020
Das Einhorn ist ein rares Tier. Kaum einer hat je eins gesehen, geschweige denn gefangen. Eine Jungfrau sei dazu notwendig, heißt es. Hildegard von Bingen empfiehlt im 12. Jahrhundert sogar, mehrere dabeizuhaben, um das wundersame Fabelwesen beim Jagen abzulenken. Doch die Suche nach dem Tier lohnt sich. Nicht unbedingt wegen der legendären Heilkraft, sondern finanziell: In der Renaissance wird sein Horn zum heiß begehrten Handelsgut. Bis zu zehn Mal wird sein Gewicht in Gold aufgewogen. Auch andere Körperteile mystischer Wesen sind gefragt: Zyklopenschädel, Greifenklauen oder gar ganze Chimären.
Sie landen in den Kunst- und Wunderkammern europäischer Fürsten, Handelsmänner und Gelehrter, die in der Renaissance und im Barock überall entstehen. Eine der wichtigsten fürstlichen Sammlungen gründete der bayerische Herzog Albrecht V. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in München und ließ dafür sogar seine Residenz erweitern. Unten in der neu errichteten Vierflügelanlage waren die Ställe, darüber entstanden Räume für seine Schätze. 1598 verzeichnete ein Inventar 3400 Objekte, verteilt auf 60 Tische und Anrichten. Die Bandbreite reicht von historischen Kleidungsstücken über missgebildete Kalbsköpfe bis zu Miniaturbildnissen von Fürsten und Päpsten.
Nicht weniger als die gesamte Welt und ihre Wunder sollten diese enzyklopädischen Sammlungen abbilden. Alles stand miteinander in Verbindung, dachte man, die Kammern sollten diese Bezüge aufzeigen. Sie offenbarten dabei noch viel mehr: die Machtansprüche und das abendländische Überlegenheitsdenken ihrer Besitzer, aber auch deren Wissensdurst, gepaart mit einer fast kindlichen Neugierde und Sammelleidenschaft.
Um die Welt besser zu begreifen, entstanden Orte zum Staunen und Träumen, zum Forschen und Vorzeigen. Die Regale, Schauschränke und Tische füllten sich mit gepressten Pflanzen, Hunderten von Tierpräparaten, vom Schmetterling bis zum Stachelfisch, Muscheln, Korallen, mysteriösen Fossilien, poförmigen Seychellennüssen, denen selbstverständlich eine aphrodisierende Wirkung zugeschrieben wurde. Dazu gesellten sich Globen und wissenschaftliche Instrumente, im Barock auch Vanitas-Symbole aller Art, die dem Betrachter die eigene Vergänglichkeit vor Augen führen, Automaten für Trinkspiele, Exotica wie chinesische Vasen, damaszenische Klingen, südamerikanische Halsketten, ägyptische Statuen.
Die Wunschliste der Sammler kannte kaum Grenzen: Die Exponate konnten nicht wertvoll, kurios oder selten genug sein. Unvergleichliches musste her! Vieles von dem, was heute in Kunst- und naturhistorischen Museen ausgestellt ist, geht auf diese frühe Sammelleidenschaft zurück. Gewiefte Händler freuten sich über die steigende Nachfrage. Am Ende des 15. Jahrhunderts fand Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, in aller Welt öffneten sich neue Handelsrouten. Hafenstädte wie Lissabon, London oder Amsterdam entwickelten sich zu wichtigen Handelsplätzen für Exotica. Nicht nur jahrhundertealte Antiquitäten, auch Neuanfertigungen gelangten so nach Europa: In Asien begannen Handwerker, passende Objekte für die Sammler in Europa zu kreieren. Aus den glänzenden Schalen von Kaurischnecken wurden Löffel gefertigt, aus Hummerscheren Parfümgefäße. Die indische Region Gujarat war Ende des 16. Jahrhunderts bekannt für Luxusaccessoires aus Schildkrötenpanzern, später wurden in den Werkstätten Muscheln und Schalen veredelt.
Besonders bei den Exotica, den Objekten aus fernen, von kaum einem Sammler bereisten Ländern, vermischte sich das Reale und Fantastische auf wundervolle Weise: Vom ausgestopften Krokodil an der Decke, das praktisch zur Standardausstattung jeder Wunderkammer gehörte, war der Drache nicht weit entfernt. Befeuert durch die Erzählungen, welche Händler und Entdecker von ihren abenteuerlichen Expeditionen zurück nach Europa brachten, wurden Büffelhörner zu Greifenklauen, Elefanten- zu Zyklopenschädeln – und gedrehte Stoßzähne arktischer Narwale zu Einhornhörnern. 1638 deckte der dänische Sammler Ole Worm den Schwindel auf. Doch der Glaube an das fabelhafte Tier hielt noch lange an.
Wie sollte es auch anders sein. Durch das stets abrufbare Wissen haben heute viele das Staunen verlernt. Damals hingegen war es ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis. Wie konnte eine Nuss nur so groß sein wie eine Kokosnuss? Wie ein Ei so gigantisch wie ein Straußenei? Und wie um Himmels willen sollte man das Reich ordnen, das man sich geschaffen hatte? Keine Systematik war der Vielfalt gewachsen, die sich in diesen vollgestopften Kammern versammelte. Und war doch eine Ordnung gefunden, kam sicher bald ein Neuzugang, der durch sein Wesen alles durcheinander brachte.
Schon in einigen mittelalterlichen Kirchen brachten riesige Eier die Menschen zum Staunen. Solche exotischen Kostbarkeiten waren oft aufwendig bearbeitet oder eingefasst – wie dieses um 1400 mit vergoldetem Silber und Email gefertigte Straußenei-Gefäß, das in der Münchner Residenz zu sehen ist.
Die Vielfalt der Natur wurde in kunstvollen Schränken präsentiert. Dieser steht in der Burg Trausnitz in Landshut.
Ebenso wichtig wie Naturalia – Steine, Tiere, Pflanzen – waren die menschengemachten Artificalia. Seit der Renaissance bröckelte die Wissenshoheit der Kirche, die Religion reichte den Fürsten und Forschern nicht mehr als Erklärungsmodell. Mit den Artificalia wollten sie auch zeigen, dass der Mensch als Krone der Schöpfung mit seiner Kunstfertigkeit durchaus gleichauf ist mit der göttlichen Kreativität – oder dessen Ergebnisse sogar übertrumpfen konnte. Die besten Kunsthandwerker schnitzten, ziselierten und gestalteten dafür mit den kostbarsten Materialien: Ebenholz, Bergkristall, Perlmutt, Gold und Silber. Die Kategorien gingen ineinander über: Hörner wurden in Trinkbecher verwandelt, Kokosnüsse verziert, Straußeneier auf Sockel gesetzt. Wer etwas auf sich gab, aber nicht gleich eine ganze Wunderkammer einrichten wollte, ließ sich ein Kabinett anfertigen. Am besten in der Handelsstadt Augsburg. Dort gestalteten talentierte Kunsthandwerker aus edlen Hölzern Schränke mit unzähligen Schubladen und Fächern, manche davon geheim, und lieferten die Möbel, ganz praktisch, schon mit einer Sammlung befüllt.
Die höfischen Wunderkammern hingegen waren längst über einzelne Räume hinausgewachsen. In ganzen Gebäudetrakten begann es zu glitzern und glänzen. Besonders prächtig entwickelte sich die Sammlung, die Kurfürst August 1560 in Dresden gründete. Das Grüne Gewölbe setzte mit seinen Preziosen spätestens in der Barockzeit Maßstäbe: ein Kirschkern, in den über 100 Köpfe wichtiger Personen geschnitzt sind, ein Goldring mit Miniaturburg, die Darstellung eines Großmogul-Geburtstagsfestes mittels 5223 Diamanten, 189 Rubinen und 175 Smaragden, ein Schuster aus Elfenbein in einer edelsteinbesetzten Werkstatt aus vergoldetem Silber. Auch komplexe geometrische Objekte aus Elfenbein sind zu sehen. Drechsler wie Georg Wecker zeigten damit ihr Können. Das Handwerk war an europäischen Höfen beliebt, auch Kurfürst August setzte sich in Mußestunden selbst an die Drehbank. Das Grüne Gewölbe war allerdings mehr Schatzkammer als Gelehrtenstube. 1805 stellte Johann Gottfried Seume nach dem Besuch ironisch fest: »Im grünen Gewölbe sah ich, dass der Kurfürst ein steinreicher Mann ist.«
Da war die große Zeit der Wunderkammern schon vorbei. Schon als der braunschweigische Herzog 1754 das Kunst- und Naturalienkabinett als Museum dem Publikum öffnete, wirkte die Kombination für manche Zeitgenossen antiquiert. Für den Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) versammelten solche Kammern »eine Menge unnützen Plunders«, für den Philosophen René Descartes (1596-1650) »verhinderten sie gar den Gebrauch des Verstands«. Die universelle Ordnung, die darin herrschte, löste sich auf: Natur kam zu Natur, Kunst zu Kunst – und in die populärer werdenden, zeitlich geordneten Kunstmuseen. Der Elefantenembryo, der Goethe bei seinem Besuch 1784 faszinierte, gehört heute wie selbstverständlich zu den Tierpräparaten des Naturhistorischen Museums, die Kupferstiche, die Gemälde und das Kunsthandwerk zum Herzog Anton Ulrich-Museum.
Die Wunderkammern waren Vorläufer der heutigen Museen – und gingen fast überall in ihnen auf. Eine Ausnahme ist die Kammer der Franckeschen Stiftungen in Halle. 1698 gegründet, wuchs sie unter dem Dach eines Waisenhauses zu einer stattlichen Sammlung heran – allerdings vor allem zur Unterrichtung der Schüler im vornehmen Pädagogium. Im 19. Jahrhundert begann ein langer Dornröschenschlaf. Um 1910 versuchte der Direktor des städtischen Museums die Wunderkammer wiederzubeleben, doch sein Enthusiasmus verflog und beschränkte sich schließlich auf einige Objekte, die er für sich ausgeliehen und nie wieder zurückgebracht hat. Um 1940 entstandene Museumspläne machte der Krieg zunichte, in der DDR wurden die Stiftungsgebäude immer stärker dem Verfall überlassen. Als die Franckeschen Stiftungen 1992 wiederbelebt wurden, konnten die Mitarbeiter das Waisenhaus gerade noch retten – und auch die Sammlung und die Schränke der Wunderkammer.
So kann heute in Halle jeder wieder eintauchen in diesen wundersamen bürgerlich-barocken Mikrokosmos, in die wilde Mischung aus Wissen, Glauben und Staunen: hier ein Schiffsmodell, dort indische Fächer, dann wieder abenteuerlich-absonderliche Exponate wie die nagelgespickten Büßerpantoffeln, die getrockneten Walpenisse oder die Flüssigpräparate menschlicher Föten. Das Krokodil an der Decke ist da, das Einhornhorn hingegen fehlt. Man muss sich mit ein paar Walknochen begnügen.
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