© IMAGO / imagebroker
Natur

Schwedens Schären: Auf nach Landsort!

Rund 24.000 Inseln zählen zu den Schären vor Stockholm. Ihr südlichster Außenposten ist Öja mit seiner Hauptsiedlung Landsort – ein Platz wie ein Puppenstübchen.

Text Suzanne Forsström
Datum 28.02.2023
© Tobias Gerber

„Stopp!“ Ein Passagier zeigt aufgeregt zurück zur Kaimauer. Er hat dort seine Thermoskanne vergessen und die Kanelbullar, die für jeden Schweden unverzichtbaren klebrigen Zimtschnecken. Prompt kehrt die rotweiße Fähre „Tuva“ um. Für Kapitän Lasse eine Selbstverständlichkeit. Was zählt da ein Fahrplan? Mit fröhlichem Hupen bahnt sich die „Tuva“ danach ihren Weg ins offene Meer. Klippen, Leucht- und Holzbaken ziehen vorüber, zum Greifen nah. Ziel ist die Insel Öja mit ihrer Hauptsiedlung Landsort, der südlichste Außenposten in der Stockholmer Schärenwelt mit ihren rund 24.000 Inseln.

Knapp zwei Stunden liegt Öja von Stockholm entfernt. Eine kurze Reise, die einen weit weg bringt. Weit weg von Autolärm, Stress und Alltag. Vor Landsort angekommen, lässt Lasse das Boot nur Zentimeter am Felsen vorbei routiniert in einen geschützt liegenden Naturhafen hineingleiten. Und die Passagier:innen steigen mitten in das Bild der schwedischen Schären ein, das viel schöner ist als das Klischee. Die Häuser sind wahre Puppenstuben, bunt liegen sie aneinander geschmiegt. Dazwischen stehen verstreut alte Leuchtbaken. Boote dümpeln im Hafen vor sich hin. Das Wasser plätschert glucksend auf die Klippen. Es duftet nach Sommer.

Auch interessant: 

Öja: Schwedische Inselidylle mit Leuchtturm

Sommernacht am Hafen der Schäreninsel Öja © Tobias Gerber
Das Foto mit dem hochsommerlichen Lichtspiel im Westhafen entstand unter Langzeitbelichtung.

Die Ankunft der Fähre bringt Leben in diese Beschaulichkeit. Überall hört man klappernde „Träskor“, die schwedischen Holzschuhe, und die Ankömmlinge werden mit einem herzlichen „hej!“ begrüßt. Nur 25 Menschen leben auf dieser vier Kilometer langen und an ihrer schmalsten Stelle 250 Meter breiten Insel. Unter ihnen seit 21 Jahren auch Ole, ein deutscher Künstler. Hierher zu ziehen war „eine schwere, aber gute Entscheidung“. Schwer wegen der Einsamkeit, gut wegen der einzigartigen Schönheit von Landsort. Heute liebt der 56-Jährige die Abgeschiedenheit. „Ich kann den Frieden und die Ruhe nicht nur spüren, sondern auch schmecken, riechen, anfassen.“ Ole wohnt allein in der früheren Schule, das Klassenzimmer ist sein Atelier. Von hier aus hat er einen wunderbaren Blick auf Schwedens ältesten Leuchtturm, das Wahrzeichen der Insel. Nachts schickt der rotweiße Turm sein weißes Licht rhythmisch aufs Meer hinaus – einmal lang, viermal kurz.

Neben dem Leuchtturm thronen Kanonen und Geschütze auf den Klippen. Noch bis Ende der neunziger Jahre war Landsort militärisches Sperrgebiet. Fotografieren war nicht erlaubt und Nicht-Schwed:innen der Zutritt verboten. Der Lüneburger Ole musste eingebürgert werden, um hierher ziehen zu können. Doch heute empfängt die Insel jeden mit offenen Armen. Die alten Militärbaracken hat die auf Öja aufgewachsene Ann als gemütliche Wanderherberge eingerichtet. Jetzt holt sie mit ihrem Hund ihre Gäst:innen im Hafen ab und bringt sie zu den kleinen rotbraunen Holzhäusern mit den Namen „Oberst“, „Soldat“ oder „Kapitän“. Man schläft am Fuße des Leuchtturms. Ann ist nach wie vor von seiner Mächtigkeit fasziniert. In ihrem gemütlichen engen Keramikladen „Sjöpricken“ verkauft sie den Turm als Gemälde, auf Servietten, Tabletts oder Tassen. Doch auch ihre eigenen Töpfereien und die Schnitzereien ihres Mannes Lennart, der als Schreiner die Häuser auf Öja in Schuss hält, stehen in den Holzregalen.

© Tobias Gerber
Landsort hat nicht wenige Häuser, aber nur zwei Dutzend ständige Bewohner:innen. Doch im Hochsommer werden die Zimmer knapp.
© Tobias Gerber
Öja mit seiner Hauptsiedlung Landsort ist eines der südlichsten der 24.000 Eilande des Stockholmer Schärengartens. Vier Kilometer lang und 600 Meter breit – bestenfalls.
© Tobias Gerber
Vor den Schären verläuft ein viel befahrener Seeweg. 4.000 Mal im Jahr nehmen die großen Schiffe Lotsendienste in Anspruch. Die Station Landsort ist Tag und Nacht besetzt.

Vor Anns Geschäft hängen die Briefkästen der Einwohner:innen von Landsort. Barbro braucht mindestens eine halbe Stunde, um ihre Post zu holen, obwohl der Briefkasten nur eine Minute von ihrem Haus entfernt ist. Man trifft sich gern zum Plausch. „Wir reden über wetterfeste Hausfarben oder über das Wetter selbst, hier in Landsort ist das kein Smalltalk.“ Die Reichstagsabgeordnete wohnt in Stockholm, doch Landsort ist ihr „zweites Wohnzimmer“ geworden. In den vierziger Jahren verbrachte sie mit ihren Eltern jeden Sommer hier. Als sie mit ihrem deutschen Kindermädchen und ausländischen Freund:innen nicht mehr ins Sperrgebiet konnte, gab sie das Haus auf. Das Herz der 75-Jährigen aber war auf Öja hängen geblieben. 1986 kaufte sie das Elternhaus zurück. „Das war wie ein Sechser im Lotto, denn hier steht ganz selten ein Haus zum Verkauf“, erzählt Barbro, „der Reiz von Landsort sind die Einfachheit und die berauschende Natur.“ Und wenn Barbro bäuchlings mit ihren Enkel:innen zum Fischen auf dem Holzsteg liegt, ist die Welt für sie in Ordnung.

Naturschutzgebiet und Hochzeitslocation

Das Gästebuch der Kirche in Landsort © Tobias Gerber
Besucher der Insel hinterlassen hier gern einige Worte über schöne Ferientage. Das Gästebuch liegt in der 1939 eingeweihten kleinen Kirche von Landsort aus.

In diese Welt gehört auch Ingrid, mit der Barbro seit 73 Jahren befreundet ist. „Lebenslange Freundschaften zeichnen uns hier auf der Insel aus“, betonen beide. Ingrid bietet im alten Lotsenturm fünf Zimmer mit meilenweiter Aussicht an. Wie ein erhobener Zeigefinger steht dieser Bau aus den Sechzigern auf einer Bergklippe. So hässlich, dass er wieder schön ist. Man wacht morgens mit dem grandiosen Ausblick über die Schären zur einen und das offene Meer zur anderen Seite auf. Ingrid lebt in fünfter Generation auf Landsort. „Welch' Glück, dass ich hier geboren bin! Und ich habe noch immer ein Wow-Gefühl.“

Ihr Mann Roland war für sie sofort reif für die Insel. Geheiratet wurde in der kleinen weißen Holzkirche. Auch heute steuern viele Paare vom Festland hier gern in den Hafen der Ehe. Weiße Bräute auf den Klippen sind für die Insulaner:innen ein vertrauter Anblick, für die Besucher:innen ein märchenhaftes Bild. Einige Paare feiern später den Hochzeitstag auf Landsort, „so manch vertrockneter Herzmuskel lässt sich hier wiederbeleben!“, weiß Roland. „Nicht nur die Zeit, auch Landsort heilt Wunden“, hat ein Besucher ins Gästebuch, das in der Kirche liegt, geschrieben.

Öja gleicht keiner anderen Insel in der Stockholmer Schärenwelt. Das ganze Eiland ist seit 1985 Naturschutzgebiet. In der Mitte verläuft ein schmaler Waldstreifen. Rechts und links liegen Klippen, jeder findet seinen eigenen Platz zum Sonnen oder Herumklettern. Mehr als zwei Personen auf einer Klippe zählen als Menschenauflauf. Es herrscht eine Stille, die zu hören ist. Da nimmt man die flatternden Flügel eines Vogels ganz anders wahr, die schwedische Fahne, die sich im Wind räkelt und das Boot, das geruhsam am Vertäuungsseil schaukelt. Ole liebt es, die Insel auf den sonnengewärmten Klippen am Wasser zu umrunden. Drei Stunden ist er dann unterwegs, die Weite hat es ihm angetan, „um Gedankenmüll zu entleeren oder einfach Löcher in die Luft zu schauen“. In den Klippen versteckt liegt die „Quelle der Hölle“, ein in der Eiszeit durch Erosion entstandener Riesenkessel, der mit zwei Metern Durchmesser und fünf Metern Tiefe zu den größten des Nordens gehört. Der Sage nach wohnte der Teufel in diesem Felsloch. Erst 1908 trauten sich Archäolog:innen in die Tiefe und fanden dort Münzen aus dem 15. Jahrhundert.

Öja im Sommer: Viel Kunst unter freiem Himmel

Künstler und Bildhauer Ole Drebold auf Öja © Tobias Gerber
Dieser Vogel muss nicht fliegen. Ole trägt viel zum Kunstsommer auf der Insel bei. In der Saison kommen einige hundert Besucher.

Für den einzigen Weg von Süd nach Nord in der Mitte der Insel braucht man nur eine halbe Stunde. Unterwegs stößt man auf ein Stein-Labyrinth, das nach einem 3.000 Jahre alten Muster angelegt ist. Fischer früherer Zeiten, die die spiralförmig angeordneten magischen Steine abliefen, waren gegen die Gefahren des Meeres geschützt und kamen mit vollem Netz sicher in den Hafen zurück. Dieser Zauber wirkt immer noch, denn die Gefriertruhen auf Öja sind voller frischer Fische, und darauf sind die Einheimischen auch angewiesen. Es gibt nur einen Tante-Emma-Laden für die nötigsten Lebensmittel. Im einzigen Inselrestaurant, das eher ein Wohnzimmer ist, bieten Ingrid und Roland selbst gefangenen frischen Fisch und hausgemachtes Eis an. Oft leisten sie ihren Besucher:innen Gesellschaft, um über Gott und Landsort zu plaudern.

Im Sommer wird Landsort drei Monate lang zur Open-Air-Galerie. Ohne Wände, mit dem Himmel als Dach, dem Horizont als Hintergrund. Der ehemalige Theaterchef Arthur ist stolz auf seine Ausstellungsidee. Als Kulturlotse der Insel ist er den ganzen Winter auf der Jagd nach außergewöhnlichen Skulpturen. Sein Freund Lennart und er scheuen keine Mühe, Kunstwerke mit dem Boot auf die Insel zu schleppen. Hunderte von Objekten haben sie bisher transportiert. Mit meisterhaftem Gespür für Licht, Wind und Wasser platzieren sie die zum Teil meterhohen Werke aus Stahl, Bronze oder Stein in der Natur. Manchmal kämpfen sie stundenlang um den richtigen Standort. Da geht es um Zentimeter, um die Skulptur ins richtige Licht zu rücken. Öja ist die einzige bewohnte Insel in den Stockholmer Schären, auf der man am selben Standort den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang erleben kann. „Wir geben den Menschen nicht das, von dem wir glauben, dass sie es haben wollen, sondern wir möchten, dass sie überrascht sind, dass wir ihnen genau das gegeben haben, was sie wollten.“ Arthur ist um weise Sprüche nie verlegen: „Hier in Landsort führt die Aussicht zur Einsicht!“

Leben auf Öja: Vom Meer und Wetter bestimmt

Auch Ole stellt seine Kunstwerke aus. Er bringt in ihnen Begegnungen von Mensch, Tier und Natur zum Ausdruck. Seine „Wächterin“, eine schwarze Holzbake, steht auf der Klippe im Hafen auf Posten. Denn Öja liegt direkt an der internationalen Fahrtroute der großen Schiffe. Viele Wracks auf dem Meeresboden vor der Insel zeugen davon, dass das Gewässer hier gefährlich ist. „Tuva“-Kapitän Lasse arbeitet auch als Bootsfahrer für die Lots:innen, die inzwischen alle auf dem Festland wohnen. Bis zu 20 Mal täglich macht er das schnelle orangefarbene Lotsenboot klar, damit Fähren, Kreuzfahrt- und Frachtschiffe sicher durch die Schären geleitet werden können. Doch nicht nur tückische Untiefen, sondern auch die tiefste Stelle der Ostsee – 459 Meter – befindet sich südlich von Öja. Von seinem Haus am Hafen hat Lasse nur 15 Sekunden zu seinem Arbeitsplatz. Anders als seine Frau Lena, die vor 22 Jahren zu ihm auf diesen Außenposten zog und seitdem jeden Tag über das Wasser zur Arbeit als technische Zeichnerin aufs Festland pendelt. „Statt im Stau zu stehen, habe ich täglich ein meditatives Naturerlebnis.“ Bisher konnte sie bei schlechtem Wetter nur dreimal nicht fahren.

Das Meer bestimmt den Alltag und die Bewegungsfreiheit der Bewohner:innen. Mal schwappt die tosende Ostsee bei Windstärke 9 bis ins Wohnzimmer, mal ist sie spiegelblank wie ein Stillleben. Lena hat diese Kontraste lieben gelernt. Ihre zwei Töchter, die 14-jährige Elin, jüngste Bewohnerin der Insel, und die 17-jährige Sofie, sind die einzigen schulpflichtigen Inselkinder. Die Schule wurde 1983 geschlossen. Daher fahren sie jeden Tag mit dem Boot zur Schule, morgens um sechs hin und abends um fünf zurück. Freund:innen vom Festland beneiden sie um ihr Inselleben und übernachten gern bei ihnen.

Glückliche Gesichter auch bei Vogelliebhaber:innen. Zugvögel machen hier Rast auf ihrer Reise vom Nahen Osten bis in den Hohen Norden. Auf Öja befindet sich die einzige Vogelstation der Stockholmer Schären, bis zu 8.000 Vögel werden jährlich beringt. Stefan und seine Tochter Sandra sind begeistert. 51 Arten haben sie heute gesichtet, darunter einen seltenen Vogel aus Bulgarien. Vater und Tochter sind für einen Tag zu Besuch, wer länger bleibt, spürt schnell die Zufriedenheit und das Zusammengehörigkeitsgefühl auf einer kleinen Insel. Manchmal wird man zur „Fika“ eingeladen, auf eine Tasse Kaffee. „Irgendwann beginnt man, sich als Teil dieser Großfamilie zu fühlen“, sagt Ole. Niemand schließt in Landsort sein Haus ab. Für die Polizei auf dem Festland ist die Insel ein blinder Fleck.

Ein Bullerbü-Gefühl macht sich breit. Die Welt schrumpft auf so schöne Weise zusammen und läuft ihren geruhsamen Gang, den nichts und niemand aus dem Tritt bringen kann. „Die Nähe zur Natur ist unsere seelische Reinigung“, sagt Arthur, „die schwedische Variante des Zen-Buddhismus“. Selbst die Gullydeckel träumen hier. „I have a dream“ steht auf ihnen geschrieben. Es fällt schwer, der Versuchung zu widerstehen, auf Öja zu bleiben. Als die „Tuva“ den Hafen verlässt, winken die Bewohner:innen zum Abschied und rufen: „Kommt doch im Winter wieder, denn hier in Landsort ist der Schnee immer weiß!“

Das könnte Sie auch interessieren

© Philip Koschel
Natur
Urlaub an der Ostsee: Rügen, Hiddensee und Stralsund

Kreidefelsen und Bäderarchitektur prägen die Ostseeinsel Rügen, Ruhe und Natur finden Platz auf Hiddensee und die Hansestadt Stralsund ist das Tor zu den Inseln.

© Unsplash
article-type-ad-big-white
Advertorial
Urlaub in Irland: Die Faszination der grünen Insel

Quirlige Städte wie Dublin und Belfast, herrschaftliche Gärten, endlose Nationalparks und wilde Inseln: Irland fasziniert und begeistert. Wir stellen Ihnen dieses einzigartige Land und seine Schätze vor.

© Unsplash/Anh Tran
Natur
Tulpenblüte in den Niederlanden: Zauberhaftes Farbspektakel

Weite Teile der Niederlande bereiten sich auf die anstehende Tulpenblüte vor. Wann das Farbspektakel zu sehen ist, wo es insbesondere in der Region Holland die schönsten Tulpenfelder gibt und welche Veranstaltungen 2024 rund um die Tulpenblüte locken, erfahren Sie hier.

© QuentinBoulegon
Natur
Noirmoutier: Insel der Salzbauern und Mimosen

Unglaublich schön, wenn sich der Sonnenuntergang im Labyrinth der Kanäle und Becken spiegelt – ein Besuch bei den Salzbauern auf der Mimosen-Insel vor Nantes lohnt sich. Schon die Hinfahrt ist abenteuerlich: Der Weg ist nur bei Ebbe passierbar.