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Natur

Natururlaub in Schweden: Wo Europas Bären leben

In der Orsa-Finnmark in Schweden leben einige der letzten Bären von Europa. MERIAN ging mit Forscher Gunther Schmidt auf Spurensuche – zu ihren Fressplätzen, Tagesbetten und Winterhöhlen.

Datum 08.03.2023

Gleich muss das Richtmikrofon reagieren, den Peilsender finden, den der Bär, draußen im Moor, trägt. Da kommt der Ton, erst schwach, dann lauter, ein helles Piepen mit immer kürzeren Pausen. „Sie läuft auf uns zu“, sagt Gunther Schmidt verdutzt. „Wir sollten zurück zum Auto.“ Da ist Furcht, die nicht aufkommen sollte, sich aber jetzt mit einer seltsamen Faszination mischt, die wohl die meisten Besucher:innern in die Wildnis der Orsa-Finnmark bringt – zu einer Bärenexkursion mit Gunther Schmidt, der hier mit seiner Frau und den Kindern in der Einsamkeit lebt, um die Raubtiere zu erforschen.

Eines eilt gerade auf uns zu. Ich spüre Hitze, Gänsehaut kriecht langsam die Arme hoch. Auch die Familie aus dem Ruhrgebiet, die neben Schmidt und mir wieder am Wegesrand vor dem Auto steht, blickt hilflos in den Wald. Schmidt hält das Richtmikrofon erneut in den blauen schwedischen Himmel und erhält nur noch ein schwaches Signal. „Sie ist wieder weiter weg. Wir können doch hinüber.“ Die Bärin Grivla, in deren Revier wir vorgedrungen sind, ist für einen Moment bis auf wenige Kilometer an uns herangekommen. Doch dann ist sie abgedreht und hat so den Weg zu ihrer Höhle freigemacht, in der sie im Winter zwei Junge bekommen hat.

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Naturerlebnis in Schweden: Die Bären der Finnmark

Ein Braunbär kratzt sich an einem Baumstamm © Lucaar/stock.adobe.com
Ein Braunbär kratzt sich an einem Baumstamm

Gunther Schmidt will uns das Versteck zeigen, hineinkriechen und dort alles erzählen, was er und seine Frau zusammengetragen haben in den vergangenen Jahren für ihren Auftraggeber, das skandinavische Bären-Forschungsprojekt. Die beiden Deutschen, die ein Forschungsstipendium 1997 nach Schweden brachte, bieten mit ihrer Agentur Björn & Vildmark große und kleine Bärentouren an, bei denen sie Teilnehmer:innen alle möglichen Spuren der Bären zeigen: ihre Fressplätze, Tagesbetten und Winterhöhlen.

Die Bären selbst dürfen sie nach schwedischem Recht nicht suchen. „Das dürfen nur Jäger in der Saison. Außerdem wäre es zu gefährlich und würde die Tiere stören“, sagt Schmidt. Gemeinsam mit seine Frau Andrea Friebe ist er jeden Tag draußen im Wald. Sie orten Bären, suchen ihre Spuren und erfassen Daten – auch für Andrea Friebes Doktorarbeit über den Einfluss des Klimawandels auf den Winterschlaf der braunen Riesen, die in der Finnmark mehr als zwei Meter groß und 400 Kilogramm schwer werden können.

Von Kvarnberg aus, einer Waldsiedlung 45 Kilometer vom Ort Orsa entfernt, startet unsere Exkursion in die Finnmark, in eine Wildnis, in der auch Wolfsrudel und Vielfraße leben, dazu Auerhähne und Birkhühner. Wir stapfen durch Birkenhaine, über Heidekrautwiesen und triefende Sternmoosteppiche. Gelb leuchtet der Ginster, weiß schillern Wollgras-Decken, zwischen denen kleine Teiche die fort ziehenden Wolken spiegeln. Es riecht nach Morcheln, nach nassem Laub und Harz. Der Moorboden schmatzt unter unseren Tritten, und kleine Pfützen bleiben zurück, wenn ich die Wanderschuhe hebe. Plötzlich hält Schmidt abrupt an und kniet vor einem mannshohen Ameisenhaufen nieder. Wie Zitronensaft schmeckt sie, die Proteinnahrung der Bären, sagt er.

Wilden Bären mit Respekt begegnen

Kratzspuren an einem Baumstamm © Torsten Schäfer
Krallenspuren eines Bären an einem Baumstamm

„Ameisen liefern den Bären 20 Prozent ihrer der Energiereserven“, erklärt Schmidt, als wir hinter eine riesige Wurzel steigen und plötzlich in die Dunkelheit blicken, in Grivlas Höhle. Gunther Schmidt, fast zwei Meter groß, legt sich hinein, holt Haare hervor und zeigt Reisig und Moos, mit dem die Bärin ihr Winterbett ausgepolstert hat. Ein halbes Jahr war diese Höhle Grivlas Zuhause. Sie hat in dieser Zeit nichts gegessen und getrunken, hat 40 Prozent ihres Gewichts verloren, ihre Körpertemperatur um fünf Grad gesenkt – und doch zwei eichhörnchengroße Kinder in der Höhle geboren. Wie die Bären das machen, wissen Biolog:innen bis heute nicht genau. Eigentlich müssten sie zu schwach sein für eine Geburt, doch die Tiere reduzieren ihren Stoffwechsel, verkleinern ihren Herzmuskel und recyceln im Körper sogar ihren Urin. Mediziner:innen und Pharmafirmen interessieren sich dafür, etwa, um zum Beispiel die Dialyse für Nierenpatient:innen verbessern zu können.

Wenn Gunther Schmidt so ruhig und leise von den Bären spricht, geht es nicht um putzige Babys und drollige Eltern. Es geht in seinen Vorträgen, die er in Gummistiefeln vor der Bärenhöhle hält und mit Fotos, Knochenstücken und Fellstücken untermalt, vor allem um Respekt. Es ist ein tiefer Respekt vor der Intelligenz und Empathie der Tiere. Schmidt zeigt auf Kerben im Stamm einer Kiefer. „Das war ihr Kletterbaum, und das sind die Krallenspuren.“ An diesem Baum hat Grivla ihren Jungen im April oder Mai zum ersten Mal gezeigt, wie Bären Bäume erklimmen. Die 1,80 Meter große und 100 Kilo schwere Mutter ist dabei so vorsichtig hochgestiegen, dass sie selbst keinen einzigen der dünnsten Äste abgebrochen hat. „Sie hat versucht, jede Trittmöglichkeit für ihre Kinder zu erhalten.“

Schmidt sitzt auf einem Baumstumpf und beginnt vom harten Winter zu erzählen und von einer ungewöhnlichen Verfolgung. Er musste der Fährte eines Bären auf Langlaufskiern folgen, kilometerweit, durch den verschneiten Wald. „Doch plötzlich brach die Spur ab, verschwand einfach im Schnee. Ich habe den ganzen Umkreis abgesucht, sah aber nichts.“ Erst als er einen Kilometer weit zurück geeilt war, fand Schmidt die Lösung des Rätsels: Der Bär war, einen Verfolger wohl ahnend, in der eigenen Spur zurückgeschlichen und hatte dann einen mächtigen Satz zur Seite gemacht. „Eigentlich unglaublich“, sagt selbst der Bärenkenner.

Finnmark: Ein Meer aus Moos und Farnen

Ein Elch läuft durch die schwedischen Wälder © Maria Emitslöf/sweden.se

Die schwedischen Braunbären sind sehr vorsichtig, vor allem, wenn es um ihre Winterhöhlen geht. Sie suchen sie penibel über Wochen aus, wählen zwischen zwei oder drei Alternativen – und entscheiden sich immer für das unauffälligste Versteck, für Wurzeln, abgestorbene Stämme oder Überhänge. Unter meterdickem Schnee, der hier in Mittelschweden das Land bedeckt, sind sie dann kaum mehr zu finden. Doch manchmal müssen die beiden Deutschen und ihre schwedischen Mitarbeiter:innen die Bären aufspüren, sie aus dem Winterschlaf holen und aus ihrer Höhle nach dazu, mit Betäubungsgewehr, Tierarzt und starken Helfer:innen. Das geschieht, wenn sie Blut- und Gewebeproben brauchen für ihre physiologischen Studien. Ich stelle mir gerade einen schlafenden Bären vor, einen riesigen, rhythmisch bebenden Fellberg, als mir plötzlich ein kleiner grauer Zottelschopf direkt ins Gesicht starrt. „Trollbart, eine Flechtenart“, sagt Schmidt und geht weiter.

Wir sind ein Stück weiter gefahren und waten nun durch ein dunkelgrünes Meer aus Moos und Farnen und durch Kiefernwald, dessen Boden blaue Flecken bekommt, wenn ich nach unten schaue. Heidelbeeren und Krähenbeeren wachsen hier – ein weiterer Grund für die dichte Bären-Population in der Finnmark von Orsa. Ein Bär, erzählt Schmidt, frisst bis zu 80 Kilogramm der vitaminreichen Beeren am Tag. Sie machen im Herbst 80 Prozent seiner Nahrung aus; im Sommer frisst er zur Hälfte Gras und Kräuter. Daneben steht auch Fleisch auf dem Speiseplan, vor allem junge Elche.

Fehlende Aufklärung über das Verhalten der Bären

Teilnehmer:innen einer Bärenexkursion in der Finnmark © Torsten Schäfer

Der Boden ist aufgewühlt, Erde tritt hervor, dazwischen Blätter, Zweige und seltsam fahle Flächen. Wir treten näher und blicken auf Knochenstücke, Teile eines Schulterblatts offenbar, ein halber Kiefer. Hier hat der Bär Sopin, der eines der neueren GPS-Halsbänder trägt und gerade sechs Kilometer weit entfernt ist, vor vier Wochen einen Elch vergraben. Er hat ihn in der Nähe getötet, in sein Revier geschleppt, zerteilt und im Waldboden als Vorrat verscharrt. Die schwedischen Bären reißen nur Jungtiere, die großen sind zu stark und werden ihnen mit den Hufen gefährlich. Nur im Winter, wenn die Elche auf Eis oder im Tiefschnee hilflos sind, können die Orsa-Bären auch erwachsene Tiere erlegen.

„Der Elchbestand hängt vom Jagddruck ab, aber auch vom Bärenbestand in der Region. Hier in den Wäldern von Orsa gibt es wenige Elche, dafür umso mehr Bären. Die Menschen in den Dörfern haben Angst. Teils gehen sie nicht mehr hinaus zum Beerenpflücken oder alleine spazieren.“ Er könne die Angst durchaus verstehen, sagt Gunther Schmidt. Dennoch hält er sie für „unberechtigt“. Es gibt zu wenig Aufklärung über die tatsächliche Gefahr und das richtige Verhalten, wenn wirklich einmal ein Bär auftaucht. 28 Bärenangriffe gab es zwischen 1977 und 2008 in Schweden, zwei Menschen starben. Meist sind Elchjäger:innen die Opfer, deren Hunde Bären aufschrecken oder in die Enge treiben. Doch selbst dann rennen die skandinavischen Braunbären, im Unterschied zum aggressiveren amerikanischen Grizzly, fast immer weg. Sie meiden den Menschen, entsprechend selten sind Konflikte in der Nähe der Dörfer. „Nur wenn ein Bär immer wieder Schafe reißt, entscheidet die Regierung, ihn zu schießen“, sagt Andrea Friebe, als wir aus dem Wald zurückgekehrt sind und im Seminarhaus Tee trinken. „Solche Fälle verunsichern die Bevölkerung wieder und können mühsam aufgebautes Vertrauen schnell zunichte machen“, sagt die Biologin, die in Schulen und im Bärenpark von Orsa immer wieder Aufklärungsarbeit leistet und für ihre friedliebenden Forschungsobjekte wirbt.

Gunther Schmidt ist schon wieder in den Wald gefahren, doch dieses Mal nur, um noch Brot zu holen. Ein paar Kilometer entfernt, im einzigen Laden in der Umgebung, den auch Deutsche betreiben. Die hier auf dem Weg nach Alaska hängengeblieben sind und ihre Schlittenhunde jetzt in der Finnmark trainieren. Als ich im Auto zurück durch die grüne „Endlosigkeit“ fahre, kommt Staunen auf, und, ja, Respekt. Vor den Bären, die eher als groß, grob und ungestüm gelten und doch so anders sind, findig, vorsichtig, fürsorglich. Und vor den Menschen, die sich ihnen voll und ganz widmen. Und so einer vermeintlich bekannten Art ein neues, feingliedrigeres Gesicht geben können.

Informationen über Bären in Skandinavien

Braunbären sind in ganz Skandinavien verbreitet. In Finnland leben circa 2.500 und in Schweden 3.500 Tiere. In Norwegen sind es rund 150 Exemplare, jedoch nur Männchen, die aus Schweden gekommen sind. Die Weibchen bleiben ihren Revieren meist treu. Die schwedische Bärenpopulation war um 1930 durch intensive Jagd bis auf 130 Tiere zurückgegangen – um 1850 hatte es noch 5000 gegeben. Ein erstes Schutzgesetz rettete 1927 die Art, die sich durch staatliche Projekte und Forschungen erholt hat. Forscher:innen kritisieren allerdings die Abschussquoten, die seit 1998 immer wieder erhöht wurden. Für die Bärenjagd brauchen Jäger in Schweden eine besondere Lizenz; jeder Abschuss muss zudem einer staatlichen Kontrollstelle gemeldet werden.

Generell stehen sich Mensch und Bär in Skandinavien aber nur selten gegenüber, weil die Tiere Angst haben und ihre Reviere groß sind. Für den Fall der Fälle gibt es aber konkrete Verhaltensregeln: Die Forstverwaltung der Provinz Dalarna empfiehlt, keinesfalls vor dem Bär zu flüchten, oder Angst zu zeigen. Es ist wichtig, Augenkontakt zu halten und sich langsam zurückzuziehen. Wenn ein Bär, was ein absoluter Ausnahmefall ist, sich dem Menschen nähert, handelt es sich um einen Scheinangriff, vor dem man keineswegs wegrennen soll. Gleiches gilt für den Fall, dass sich ein Bär aufrichtet, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Es geht immer darum, durch Flucht nicht den Angriffsreflex auszulösen, und dem Bär zu zeigen, dass er es mit einem mehr oder weniger gleich großen Wesen zu tun hat, vor dem er Respekt haben sollte.

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