Beleuchtete Kanäle wie der romantische Naviglio Grande, duftender Jasmin in märchenhaften Innenhöfen und Pizza und Pasta in altehrwürdigen Straßen: Willkommen im Navigli-Viertel von Mailand.
Datum 09.02.2023
Mailänder:innen schlendern nicht, bummeln nicht, spazieren nicht. Mailänder:innen rennen – eigentlich immer. Auf den U-Bahn-Rolltreppen hetzen sie an Zugezogenen vorbei, auf den Straßen klackern ihre Absätze in hektischem Stakkato. Doch es gibt ein Stadtviertel, in dem das plötzlich anders wird, in dem die Rastlosen endlich abbremsen. Erst verfallen sie in einen zögerlichen Schlenderschritt, dann bleiben sie stehen, blinzeln in die Sonne. Sie sind im Navigli-Viertel angelangt – in Mailands Dorf von Welt.
Im Navigli-Viertel von Mailand ziehen Kanäle aus dem Mittelalter, Restaurants am Wasser und Ateliers in versteckten Höfen Menschen in ihren Bann. Abends verwandelt es sich in eine coole Ausgeh-Meile mit Bars und Musik.
Kanäle in Mailand: Naviglio Grande und Naviglio Pavese
Die wundersame Verwandlung muss am Wasser liegen: Tiefgrün und unergründlich fließt es in zwei breiten Kanälen durchs Viertel. Naviglio Grande und Naviglio Pavese heißen sie, und verbunden sind sie durch ein Hafenbecken namens Darsena. Verschnörkelte Eisenbrücken wölben sich über der Strömung.
Am Ufer hupen keine Autos, die Motorini drängeln nicht. Stattdessen stolpert ein Rollschuhfahrer übers Pflaster, Damen trippeln zur Messe. Jungdesigner:innen nähen an ärmellosen Sommerkleidern, aus einem Trödelladen dudelt Jazz. Und überall sitzen entspannte Menschen, trinken Orangensaft oder Espresso und lassen den Blick über die Fluten gleiten. Wasser beruhigt. Wasser lässt durchatmen.
800 Jahre lang war Mailand von Kanälen durchzogen, ähnlich wie Amsterdam oder Venedig.
Mailands ursprüngliches Gesicht
Doch es gibt wohl noch einen anderen Grund, weshalb die Mailänder:innen sich magisch von den Kanälen der Stadt, den Navigli, angezogen fühlen: Nur hier zeigt ihre Stadt noch ihr altes, ursprüngliches Gesicht. 800 Jahre lang war Mailand von Kanälen durchzogen, ähnlich wie Amsterdam oder Venedig. Ab dem 12. Jahrhundert bauten die Mailänder:innen die Navigli systematisch aus, bis die Wasserstraßen ihre Stadt mit dem Lago Maggiore und dem Comer See im Norden verbanden – und mit der Adria.
Was wäre aus dieser Metropole nur ohne ihr Wasser geworden? Selbst der strahlend weiße Marmor für den Mailänder Dom wurde vom Lago Maggiore bis in die Innenstadt geschippert. Tag und Nacht ließen die Fluten Wasserräder ächzen, die mitten in der Stadt Getreide mahlten, Schmiedepressen antrieben und früh den industriellen Aufstieg ermöglichten. Die Mailänder:innen fingen direkt vor ihrer Haustür Fische. Und vor den Toren pumpten die Bauern und Bäuerinnen großzügig Wasser ab, um ihre Reisfelder zu fluten.
Auch heute noch ist die ländliche Lombardei von einem dichten Bewässerungsnetz durchzogen – doch in Mailands Innenstadt sucht man Kanäle vergeblich: Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert galten sie als stinkend, dreckig und unerhört altmodisch. Während des Faschismus brauchte man dann Platz für große, protzige Boulevards, und so wurden die Innenstadtkanäle ab den 1920er Jahren zugeschüttet. Nur der Naviglio Martesana im Nordosten entkam dem Erneuerungswahn – und eben das charakteristische Navigli-Viertel südwestlich vom Zentrum, mit seinen zwei Kanälen und dem Hafenbecken.
Ab dem 12. Jahrhundert bauten die Mailänder:innen die Navigli systematisch aus, bis die Wasserstraßen ihre Stadt mit dem Lago Maggiore und dem Comer See verbanden.
... ab den achtziger Jahren siedelten sich immer mehr Kreative an und begannen, das Gesicht des Viertels zu verändern.
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Verwunschene Innenhöfe: Der Duft der Jasminblüten
„Mailand muss wundervoll gewesen sein mit all dem Wasser; ein Jammer, dass kaum etwas davon geblieben ist“, seufzt Michela Solari, und ihr Mann Anders Lunderskov streicht gedankenverloren durch seinen zauseligen Bart. Sie ist Modedesignerin, er entwirft und schreinert wundervoll schlichte Möbel, und ihr gemeinsames Atelier versteckt sich in einem der verwunschenen Innenhöfe des Viertels. In manchen Höfen duften Jasminblüten, in anderen ranken sattgrüne Weinpflanzen an den Wänden.
Es war diese besondere Atmosphäre, die Lunderskov aus Dänemark hierher lockte. Michela Solari hingegen ist mit den Navigli-Kanälen aufgewachsen. „Wir wussten die damals gar nicht zu schätzen. Als Kind hatte ich immer Angst, bei Nebel ins Wasser zu fallen“, erzählt sie. „Bis Ende der siebziger Jahre trieben auf dem Naviglio Grande Lastkähne voller Kies zum Darsena-Hafen, nur mithilfe der Strömung. Abends wurden sie aneinandergebunden – und dann schleppten tuckernde Traktoren sie wieder zurück.“ Die Lastkähne sind längst verschwunden, aber seit wenigen Jahren schippern dort zumindest wieder Tourist:innen entlang. Ein schmucker Kapitän mit gold-blauen Schulterklappen steht am Steuer, während die Passagier:innen mit vielen Che bello!-Rufen unter Brücken hindurchfahren. Am Vicolo dei Lavandai, dem Wäscher-Gässchen, klackern ihre Kameras besonders oft.
Erinnerungen an das alte Navigli-Viertel
Ein verwittertes Waschhaus erinnert dort an die alten Zeiten des Navigli-Viertels: Holzbalken halten ein krummes Ziegeldach, sonnenhungrige Eidechsen hocken auf den Steinen. Es ist gar nicht so lange her, da knieten hier noch Hausfrauen, schrubbten Schlafanzüge und Blaumänner und spülten sie mit Wasser, das sie aus dem Naviglio Grande abzweigten. Eine dieser Frauen wohnt bis heute in der Gasse: Maria Salti, über 90, eine rüstige Dame im Arbeitskittel.
„Neben dem Waschhaus stand eine Drogerie, da haben wir für fünf Lire heißes Wasser gekauft“, erzählt sie. „Und in unserem Innenhof stand eine schwere Handschleuder. Wenn alle Wäsche zum Trocknen auf den Leinen hing, haben wir bei einer der Nachbarinnen Kaffee getrunken. Schön war das damals. Schön.“ Als die Gemeinde das öffentliche Wäschewaschen verbot, hat Maria Salti Ende der siebziger Jahre eine Waschmaschine gekauft. „Aber die sieht die Flecken nicht“, grummelt sie. „Von Hand wurde das damals sauberer.“
Der Parco delle Basiliche ist die grüne Lunge des Viertels.
Das Navigli-Viertel bei Nacht
Selbst im Navigli-Viertel steht die Zeit eben nicht vollständig still: Wo zunächst arme Arbeiterfamilien wohnten, siedelten sich ab den achtziger Jahren immer mehr Kreative an und begannen, das Gesicht des Viertels zu verändern. Heute sind die dunklen Wohnungen mit Etagenplumpsklo saniert und gewinnbringend vermietet. Die Drogerie der Wäscherinnen ist ein Feinschmecker-Restaurant, alte Handwerksbetriebe verschwinden.
Doch die erstaunlichste Verwandlung vollzieht sich nach Sonnenuntergang, wenn sich das warme Licht der Straßenlaternen sanft im Wasser spiegelt. Maria Salti zieht sich dann vor den Fernseher zurück und verrammelt ihre hellblauen Fensterläden. Denn ihr Dorf feiert an beinahe jedem Sommerabend eine Art Volksfest – eins mit vielen jungen, gutaussehenden Gäst:innen. Es ist, als zöge es halb Mailand an die Kanalufer: Bücher- und Schallplattenläden sind trotz später Stunde geöffnet, Liebespärchen knutschen auf den Brücken, sämtliche Stühle und Gehsteigkanten sind besetzt, und in den Gläsern schwappen bunte Cocktails bis tief in die Nacht.
Zum Abend hin zieht es halb Mailand an die Kanalufer. Cafés sind voll besetzt, Bücher- und Schallplattenläden trotz später Stunde geöffnet.
Ein Referendum für die Navigli
„Wasser zieht uns Mailänder eben magisch an, es ist das Lebenselixier der Stadt“, erklärt Guido Rosti schulterzuckend, als am nächsten Morgen die Ufer wieder beschaulich in der Sonne liegen. Am Nachtleben findet der pensionierte Geologe zwar keinen Gefallen – aber am Wasser umso mehr. Er kämpft mit den Amici dei Navigli und mehreren weiteren Mailänder:innen Bürgerinitiativen dafür, einen Teil der historischen Kanäle wieder zu öffnen – insbesondere die Fossa Interna, die früher die Innenstadt fast wie ein Ring umschloss.
„Technisch wäre das ohne Weiteres möglich. Wir haben mit dem Polytechnikum aufwendige Studien gemacht“, sagt Rosti. 2011 half er bei der Organisation eines Referendums: Rund 94 Prozent der Mailänder:innen, die ihre Stimme abgaben, stimmten für die Wiederöffnung der Navigli. Gesetzlich bindend ist das Referendum allerdings nicht. „Und es fehlt vor allem am Geld“, seufzt Rosti. Zumindest in seiner Fantasie leben die zugeschütteten Navigli weiter. Seit einigen Jahren schreibt er historische Romane über Mailand, in denen Wasser und das Kanalsystem eine wichtige Rolle spielen. Im wahren Leben hat man jetzt zumindest das Hafenbecken Darsena renoviert, das über Jahrzehnte halb zugewuchert war. Zufrieden beobachtete Rosti damals die Bagger, die hektisch hin- und herratterten, um die Grundlage für gepflegte Landebrücken mit Läden und Cafés zu schaffen. Auf dem Bauzaun stand damals: „Endlich sitzen wir alle im selben Boot“. Seitdem erobern sich die Mailänder:innen ihre Wasserstadt zurück.
Wo früher die Bewohner:innen Waschmittel & Co einkauften, sind heute Feinschmecker-Restaurants und Bars angesiedelt.
Infos zum Navigli-Viertel
Einkaufen
Antiquitäten: Hunderte Händler:innen stehen beim Antikmarkt Mercatone dell’Antiquariato, der meist am letzten Sonntag des Monats (Januar/Juli geschlossen) stattfindet, am Kanalufer dicht an dicht. Wer ihn verpasst, kann beim Trödelhändler Bazar del Naviglio Grande in Bergen von altem Spielzeug kramen.
„Individuals“: Von keinem der knatschbunten Bikinis bei „Individuals“ gibt es mehr als zehn Stück: Der junge Designer Carlo Galli nutzt Rest-Stoffstücke der großen Marken und lässt sie in Italien von Hand nähen. Ober- und Unterteile stellen die Kundinnen selbst zusammen, bis alles perfekt passt.
Michela Solari/Anders Lunderskov: Holzschalen schweben unter der Decke, an den Kleiderstangen hängen handgewebte Schals und duftige Kleider: In ihrem Showroom, versteckt in einem hübschen Hinterhof, ergänzen sich der dänische Möbeldesigner Anders Lunderskov und die italienische Modedesignerin Michela Solari bestens.
Restaurants im Navigli-Viertel
„Asso di fioriOsteria dei formaggi“: In der Osteria von Familie Bilotta gibt’s vor allem eines: Käse aus kleinen, handwerklichen Betrieben. Aus den mehr als 200 verschiedenen Sorten entstehen ungewöhnliche Gerichte – wie Bombardoni-Nudeln mit Puzzone-Käse und Lakritzpulver.
„Officina 12“: Ursprünglich wurden hier Lastkähne gebaut. Doch die ehemalige Werkstatt mit Ziegelmauern und Stahldach hat sich in ein hippes Restaurant verwandelt. Besonders lecker: die Pizzen aus dem Holzbackofen, zum Beispiel mit Büffelmozzarella, Steinpilzen und Parmaschinken.
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