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Unterkunft

Albergo Diffuso: Die Hoteldörfer von Italien

Manch ein abgelegenes Dorf im ländlichen Italien wurde durch Abwanderung zum Geisterort. Dank des Erfindergeistes ihrer Einwohner:innen kehrt in viele nun neues Leben ein: Sie wurden zu „Alberghi Diffusi“, zu Hoteldörfern. Wer hier eincheckt, lernt Italien von einer neuen Seite kennen.

Text Annette Rübesamen
Datum 21.09.2023

Die Hotellobby ist picobello aufgeräumt, da lässt Wirtin Fulvia Ceaglio nichts auf sich kommen: Der Boden ist gefegt, die Stühle sind ordentlich an die mit Blumentöpfchen dekorierten Tische gesetzt. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos vom Leben in den Bergen, vom Heumachen, von Wintern mit meterhoher Schneedecke. Auf der Truhe an der Hauswand hat Fulvia Spitzendeckchen ausgebreitet und allerlei Hausrat darauf arrangiert: geblümte Kaffeetassen mit Goldrand, wurmstichige Butterformen, eine alte Käsereibe. 

Ein bisschen wie auf dem Flohmarkt sieht das aus, und das frisch angereiste Paar aus Mailand bückt sich neugierig darüber. Dann ziehen sie fröstelnd die Reißverschlüsse ihrer Anoraks hoch. Ein frischer Wind ist aufgekommen und weht über die Gipfel der Cottischen Alpen, hinein in die Lobby des „Albergo Ceaglio“. Denn die liegt unter freiem Himmel und ist in Wirklichkeit der Dorfplatz.

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Zu Besuch im Albergo Diffuso

Abendstimmung im Albergo Diffusi Ceaglio © Guido Cozzi
Abendstimmung im Albergo Diffuso Ceaglio

Fulvia und ihr Mann Alberto Galliano führen in Vernetti, einem Weiler im südwestpiemontesischen Valle Maira, ein Albergo Diffuso. So wird in Italien eine Kategorie von Unterkünften bezeichnet, in der die Gästezimmer nicht zentral in einem Gebäude konzentriert sind, sondern sich über mehrere Häuser im Ort verteilen. 

Sieben sind es im „Albergo Ceaglio“, oder anders ausgedrückt: das halbe Dorf. Rote Schilder an den Haustüren und glänzende Damastvorhänge in den Fenstern verraten, hinter welchen Mauern sich die insgesamt 23 Gästezimmer und sieben Apartments verstecken. Statt durch schnurgerade Hotelkorridore ziehen die Gäst:innen ihre Koffer über das holprige Pflaster krummer Gassen, über kleine Brücken und unter steinernen Durchgängen hindurch aufs Zimmer. Und statt Musikberieselung plätschert ein bemooster Steinbrunnen auf dem Dorfplatz, den Fulvia so liebevoll möbliert hat, als wäre er ein großes Wohnzimmer. 

Vernetti: Ein altes Dorf wächst

Gassen und historische Häuser im Valle Maira © Guido Cozzi
Gassen und historische Häuser im Valle Maira

Fulvia ist 60 Jahre alt, energiegeladen, blond gesträhnt, in engen Glanzjeans. Ihr Platz ist überall im Dorf, vor allem aber hinter dem Bartresen im Haupthaus, wo sie die Espressomaschine bedient und die Gäst:innen empfängt. Sie selbst kennt jeden Stein in Vernetti, ist hier aufgewachsen, wie Generationen von Ceaglios vor ihr. Vor allem aber ist sie hiergeblieben und nicht in die Ebene gezogen wie die allermeisten anderen Talbewohner:innen ihrer Generation. 

Stattdessen hat sie Ende der 1980er Jahre die familieneigene Osteria in Vernetti übernommen. Zusammen mit Alberto, der unten in der Po-Ebene als Fahrradlackierer arbeitete, aber lieber in den Bergen leben und Koch sein wollte. Die beiden hofften darauf, unter der Woche Arbeiter:innen verpflegen zu können, die im Valle Maira gerade an einem Wasserkraftwerk bauten, und am Wochenende vielleicht den einen oder anderen Tourist:innen. Zwei winzige Fremdenzimmer gab es bereits.

Refugium im Valle Maira

Eine historische Werkbank in Ceaglio © Guido Cozzi
Authentisch: Eine alte Werkbank steht in den Straßen von Ceaglio

„Ich hatte dann aber schnell Lust, etwas Besonderes daraus zu machen“, erzählt Fulvia. „Und so haben wir 1991 erst mal das Haus am Dorfbrunnen dazugekauft. Dann nach und nach die anderen. Immer, wenn wieder ein Dorfbewohner starb.“ Es hätten ja nur noch wenige alte Leute gelebt in Vernetti. „Und die Erben wollten alle nicht hierher. Die waren froh, wenn sich jemand für das alte Gemäuer interessiert hat.“ 

Fulvias Familie entrümpelte die Häuser – ein Teil des Hausrats bildet heute eine Art ständige Ausstellung auf Mauervorsprüngen, Fassaden und Fensterbrettern –, restaurierte sie und richtete Gästezimmer darin ein. Mit Natursteinwänden, warmen Lärchenholzböden und Eichenpaneelen passen sie in die Region, sind aber frei von jedem Alpenkitsch. 

Was versteht man unter „Albergo Diffuso“?

Die San Peyre Kirche in Borgota San Martino © Guido Cozzi
Die San Peyre Kirche in Borgota San Martino

Nirgendwo in den Alpen zogen in den vergangenen 80 Jahren mehr Menschen weg als in den steilen, schwer zu bewirtschaftenden Tälern des Südwest-Piemonts, die sich in Richtung Frankreich in die Cottischen Alpen bohren. Zurück blieben winzige Weiler. Die Häuser aus Bruchstein gemauert, mit dunklem Schiefer gedeckt, heute oft halb verfallen. So wie Caudano, wenige Kilometer nordöstlich von Vernetti, wo noch zwei betagte Zwillingsbrüder leben und ihre Rinder in den uralten Stallgewölben mit auf dem Rücken herbeigeschlepptem Heu versorgen. 

Allein an die Hänge des Valle Maira klammern sich rund 200 dieser Miniatursiedlungen. Vernetti ist eine davon. Doch Vernetti verfällt nicht. Schmuck, solide und voller Leben sitzt es jetzt oberhalb des rauschenden Marmora-Bachs. In den Liegestühlen auf dem Dorfplatz trinken die Mailänder:innen jetzt heiße, dickflüssige Schokolade. Über ihnen blähen sich die zum Trocknen aufgehängten, frisch gewaschenen Laken im Wind. Das „Ceaglio“ ist ein Albergo Diffuso wie es im Buche steht. Zumindest im Handbuch von Giancarlo Dall’Ara.

Dall’Ara, ein Tourismus-Experte aus der Emilia-Romagna, ist nicht nur ehrenamtlicher Präsident der Associazione Nazionale Alberghi Diffusi in Italien. Er hat die ganze Sache gewissermaßen erfunden. In den 1980er Jahren, als ein nahezu verlassenes Dorf im Friaul bei ihm anfragte, was man tun könnte, um den Ort für Tourist:innnen attraktiv zu machen. „Wir haben Häuser, aber keine Leute“, sagten sie zu ihm. Dall’Ara traf sich mit ihnen im ehemaligen Milchgeschäft des Dorfes. „Da war dieser Geruch nach Käse, der noch in der Luft hing, die besondere Atmosphäre, die Geschichte in jeder Ecke“, erinnert er sich. „Da wurde mir klar, was die Lösung sein könnte. Und ich habe mein Modell entwickelt.“ 

Regionale Produkte statt Massentourismus

Die Dorfbewohner:innen von Ceaglio sammeln Kräuter. © Guido Cozzi
Lokale Produkte statt Massentourismus: Das Konzept „Albergo Diffuso“

Ein richtiges Albergo Diffuso im Dall’Araschen Sinne folgt einer ganz bestimmten Philosophie. Es geht darum, kleine Ortschaften, die vom Verfall bedroht sind, wiederherzurichten. Sie für Gäst:innen attraktiv zu machen, die Geld und Leben mitbringen und dadurch für wirtschaftliche Entwicklung im Ort sorgen. Und die dafür die Region auf eine Weise kennenlernen, wie es im standardisierten Ketten- oder Clubhotel nie möglich wäre.

„Einfach nur Zimmer auf eine Reihe von Häusern zu verteilen, reicht nicht“, sagt Dall’Ara. „Es muss sich um leer stehende Dorfhäuser in typischer Architektur handeln; nichts darf neu gebaut werden. Außerdem braucht es Gemeinschaftsräume, richtige Hotelservices wie eine Rezeption und Verpflegung. Es muss eine Wertschätzung stattfinden für das, was der Ort zu bieten hat, und es sollten regionale Produkte verwendet werden.“ 

Albergo Diffuso: Ein internationaler Erfolg

Blick auf den Ort Caudano © Guido Cozzi
Dörfliche Romantik im Ort Caudano

Es war ein Konzept, das auf allen Seiten gefiel. Rund 250 Adressen umfasst die Vereinigung heute. Besonders viele Dorf-Hotels hätten auf Sardinien und in der Toskana aufgemacht. Dall’Ara vermeldet außerdem eine ganze Reihe von Alberghi Diffusi in Japan und großes Interesse an der Realisierung entsprechender Unterkünfte aus Irland, Albanien, der Slowakei und Frankreich. Und er freut sich schon auf China „mit einer Million Geisterdörfer, die sich bestens eignen würden“. 

Hoteldorf mit Zukunft

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Dorfbewohner Natale Ellena empfängt gern Besuch.

So wie auch Vernetti, wo die zwei erwachsenen Söhne von Fulvia und Alberto keinerlei Absichten hegen, in die Ebene zu ziehen. Warum auch? Beide lieben das Leben in den Bergen; das Hotel ist ihre Zukunft. Auch Natale Ellena bleibt, das kauzige Urgestein. Seit 20 Jahren ist Natale schon in Rente. Er wohnt in einem der wenigen Häuser im Dorf, die nicht zum Hotel gehören. Mit weißem Rauschebart und sanfter Stimme lädt Natale manchmal Gäste ein, in seiner Garage am getrockneten Wermutkraut zu schnuppern, das er oben in den Bergen erntet und aus dem sich Génépy brennen lässt, ein aromatischer, grün-gelber und hochprozentiger Likör.

Und dann wäre da noch Peter Vogt. 71 Jahre alt, promovierter Chemiker aus Zürich und im Dorfleben von Vernetti daran zu erkennen, dass auch in seinen italienischen Sätzen gern ein schweizerisches „od’r?“ auftaucht. Peter Vogt buchte vor 20 Jahren sieben Tage Moutainbike-Urlaub im „Albergo Ceaglio“ – und blieb sechs Wochen. Fasziniert von der Natur und fassungslos, dass niemand diese Möglichkeiten richtig nutzte. Also packte er selbst mit an. Gestaltete für Fulvia und Alberto Tourenkarten und eine funktionierende Hotel-Website, steuerte wertvollen Input in Sachen Zimmergestaltung und Marketing bei, machte sich unersetzlich. Mittlerweile verbringt der Schweizer neun Monate im Jahr in Vernetti, wo er sich in einem der Häuser eine kleine Wohnung gekauft hat. Seither zählt das Dorf einen Einwohner mehr. Und nicht nur Giancarlo Dall’Ara dürfte zufrieden sein.“